GESPRÄCH MIT DEM JUGOSLAWISCHEN
AUSSENMINISTER ZIVADIN JOVANOVIC:
"FÜR JEDEN DOLLAR, DEN DER WESTEN JUGOSLAWIEN GIBT,
WILL ER ZEHN ZURÜCK HABEN!"

Der belgische Journalist Michel Collon führte am 11. Oktober 2000 mit
dem jugoslawischen Außenminister Zivadin Jovanovic ein Gespräch, das in
der Wochenzeitung der Partei der Arbeit Belgiens "Solidaire" erschien.
Jovanovic, aus einer Familie einfacher Bauern stammend und Autodidakt,
war von 1997 bis Oktober 2000 Außenminister seines Landes. Während des
Krieges nahm Jovanovic eine feste Haltung ein und mobilisierte die
jugoslawischen Diplomaten in aller Welt, um der Propaganda der NATO
entgegen zu treten.

Michel Collon: Wie geht es Ihnen?

Zivadin Jovanovic: Ich überlebe! Trotz eines sehr unangenehmen Besuchs,
den mir heute morgen eine Troika von der DOS abstattete. Sie kamen, um
mich zum Rücktritt zu zwingen. Mit der Behauptung, "von Präsident
Kostunica" zu kommen, gehen sie überall herum. Sie setzen Leute unter
Druck, die ein rechtmäßiges Mandat haben, um sie zum Ausscheiden zu
zwingen. Ich hielt ihnen entgegen, dass Herr Kostunica eben erst
Verfassungstreue geschworen habe, und anschließend machte ich sie darauf
aufmerksam, dass es nicht der Präsident ist, der die Minister ernennt,
sondern der Premierminister.

Vor der Öffentlichkeit beteuern sie, die Gesetze und das normale
Funktionieren der Institutionen zu respektieren, aber in Wirklichkeit
tun sie alles, was sie können, um diese zu zerstören! Sie versuchen,
Chaos zu stiften.

Collon: Die DOS erklärt, es seien "die Arbeiter, die die Kontrolle der
Fabriken übernehmen".

Jovanovic: Aber als dieses Land "Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe"
praktizierte, sagten sie, das sei eine Form kommunistischer Diktatur. In
Wirklichkeit ist heute Zoran Djindjic, der Leiter der DOS-Zentrale, ich
möchte sagen, ihr eigentlicher Herr, der es eilig hat, alles an sich zu
reißen. Sie streunen herum wie hungrige Schakale. Diese Politiker sind
nicht das Volk. Sie wollen unverzüglich die Macht ergreifen, um das Land
zu verkaufen.

Collon: Im Fernsehen war zu sehen, wie der Chef der Zollverwaltung mit
Waffengewalt von einem gewissen "Hauptmann Dragan", der im Krieg in
Kroatien Führer einer serbischen Miliz war, aus seinem Büro verjagt und
ersetzt wurde. Das war eine Szene, die die öffentliche Meinung
schockierte.

Jovanovic: Der Mann, den Djindjic als Chef der Zollverwaltung einsetzte,
war schon einmal für den Zoll verantwortlich. Er wurde wegen seines
Strafregisters entlassen. Jetzt kommt er mit Bewaffneten und holt sich
seinen alten Job zurück. Ist das eine "spontane Massenbewegung"? Die
Menschen waren so entrüstet, dass DOS sich der Illegalität dieses Aktes
bewusst wurde und sie einen neuen Direktor ernennen werden. Auf welcher
Rechtsgrundlage? Sie haben nicht das Recht dazu; dies ist immer noch die
Zuständigkeit der amtierenden Regierung.

Allmählich beginnen die Leute zu verstehen. Selbst bei der DOS gibt es
anständige Leute, die das missbilligen. Aber die stehen auf verlorenem
Posten und haben keinen Einfluss. Präsident Kostunica sollte darüber
besorgt sein, genießt er doch ein tadelloses Ansehen. Im Parlament
schwor er Treue zur Verfassung. Die machen sie zum Gespött.

Collon: Aber im Augenblick freuen sich die meisten über den "Wandel".

Jovanovic: Wenn die Leute erst arbeitslos sind, wenn sie die Geschäfte
voller westlicher Erzeugnissen sehen aber sie nicht kaufen können, wenn
sie in ein System geraten, in dem man ihnen willkürlich den Arbeitsplatz
wegnehmen kann, wenn sie für Bildung und Gesundheit sehr viel Geld
bezahlen müssen, dann werden sie verstehen.

Ich gebe zu, dass unsere Läden nicht sehr eindrucksvoll sind. Da gibt es
wenige deutsche, französische oder britische Produkte. Aber die meisten
Leute können alles kaufen, sogar moderne Haushaltsgeräte. Es wird ein
grausames Erwachen geben.

Collon: Der Westen verspricht, Jugoslawien finanzielle Hilfe zu
gewähren.

Jovanovic: Ein wenig Geld aus Europa wird schon kommen, und die DOS wird
dies als "Hilfe befreundeter Länder" darstellen. In Wirklichkeit ist das
nur eine Anzahlung, bevor man unser ganzes Land aufkauft. Für jeden
erhaltenen Dollar wird unser Land zehn zurückzahlen müssen.

Collon: Tatsächlich haben Dollar bereits den Weg nach Jugoslawien
gefunden.

Jovanovic: Ja, die Vereinigten Staaten haben öffentlich eingeräumt, 77,2
Millionen Dollar ausgegeben zu haben, um der Opposition zu helfen, die
jugoslawischen Regierung zu stürzen. Und am 25. September bewilligte der
US-Kongress neue Finanzmittel in Höhe von 105 Millionen US-Dollar.

Collon: Haben Sie gegen diese Einmischung in die Wahlen bei der UNO
protestiert?

Jovanovic: Selbstverständlich. Diese Destabilisierung unseres Landes
wurde von Budapest aus auch mit in Sofia, Skopje und anderswo
eingerichteten US-amerikanischen, mit CIA-Agenten besetzten Büros
organisiert. Das Wiener Abkommen verbietet, in einem Land feindliche
Zentren gegen ein anderes Land einzurichten. Heute können Sie sehen, wie
der US-Botschafter in Budapest, Montgomery, nach Jugoslawien kommt, um
seinen Untergebenen von der DOS einen Besuch abzustatten!

Aber die Vereinigten Staaten und Großbritannien, die die UNO
kontrollieren, streiten alle Beweise ab. Andere Länder verstehen uns,
aber wir haben nicht einmal eine Debatte darüber erreicht.

Collon: Die Vereinigten Staaten haben für die Wahlkampagne von DOS
beachtliche Beträge ausgegeben.

Jovanovic: Ja. Und wie würden sie reagieren, wenn das jemand bei Ihnen
täte? Sie erinnern mich an einen hiesigen Witz: Ein Bauer sieht, wie der
Priester während der Fastenzeit einen großen Braten verspeist. "Aber Sie
haben uns doch gesagt, dass Fasten ein Gebot Gottes ist!" sagt der
Bauer. Worauf der antwortet: "Du sollst befolgen, was ich dir sage, aber
nicht tun, was ich tue!"

So ist das mit den Vereinigten Staaten! Was sie sich erlauben, ist
anderen verboten. Wenn sie von "Demokratie" sprechen, ist das nur ein
Schlagwort, das sie vorgeben, um die Welt zu beherrschen. Ein Beispiel:
Sie möchten eine Internationales Tribunal über Kriegsverbrechen
durchsetzen, um uns anzuklagen. Aber sie selbst lehnen ein universelles
Tribunal für Kriegsverbrechen ab, das über alle Kriegsverbrechen
urteilen könnte, gleich von welchem Staat sie begangen würden. Sie
wissen nur zu genau, dass sie für das verurteilt werden müssten, was sie
in Panama, Haiti und anderswo getan haben! In der Generalversammlung der
Vereinten Nationen stimmten sie 1995 gegen eine Resolution, die die
Einmischung in die inneren Angelegenheiten, insbesondere Wahlen, anderer
Länder verbietet. Diese Resolution wurde gegen sie mit Stimmenmehrheit
beschlossen; sie müssten sich eigentlich an die Regeln der
demokratischen Mehrheit halten!

"Zweierlei Maß", das ist die Grundvoraussetzung der US-"Demokratie".

Collon: Ist nur Jugoslawien im Visier oder lässt das weitere Angriffe
der Vereinigten Staaten und der NATO vorahnen?

Jovanovic: Sie haben ihre ganze Kraft eingesetzt; denn wenn der
jugoslawische Widerstand noch länger angedauert hätte, wäre das zu einem
gefährlichen Beispiel geworden. Wir waren dabei, wachsende Unterstützung
in der Dritten Welt zu gewinnen.

Collon: Ist der nächste Vorstoß auf Russland gerichtet?

Jovanovic: Wenn so viel Energie gegen Jugoslawien konzentriert worden
ist, dann geschieht dies nicht bloß, um ein unmittelbares Interesse der
Vereinigten Staaten und NATO an unserem Land zu befriedigen. Um zu
verstehen, muss man ihre globalen Bestrebungen in Betracht zu ziehen.

Abgesehen von bestimmten Regionen, die wegen ihrer bedeutenden
natürlichen Ressourcen an sich eine lebenswichtige Bedeutung haben, ist
alles, was die NATO und die Vereinigten Staaten tun, immer eine Funktion
ihrer globalen Interessen. Erstens wollen sie weltweit jeglichen
Unabhängigkeitswillen und Widerstand gegen ihre Vorherrschaft ersticken.
Zweitens soll die Botschaft verbreitet werden: "Kein Land darf sich auf
Prinzipien berufen; es hat lediglich die Sichtweise der Vereinigten
Staaten zu respektieren". Drittens rückt damit die NATO näher an die
Grenzen von Russland und China heran. Washington arbeitet daran, diese
Länder auseinanderzubrechen, indem es die Saat des Separatismus legt und
den islamische Fundamentalismus manipuliert. Einerseits betrügen sie die
Moslems, die glauben sollen, dass sie ihre Freunde sind...

Collon: ... dabei massakrieren sie sie im Irak und in Palästina.

Jovanovic: Genau! Und andererseits versuchen sie, die Erz- und
Energieressourcen zu kontrollieren wie auch die neuen Märkte, die sich
östlich unseres Landes auftun: Der Kaukasus, der mittlere Osten...
Nachdem die Vereinigten Staaten ihre Kontrolle über Westeuropa errichtet
haben, wollen sie gegenwärtig alle Regierungen Eurasiens kontrollieren.
Das ist der entscheidende globale Faktor.

Dadurch, dass wir zehn Jahre Widerstand geleistet haben, haben wir
anderen Ländern Zeit verschafft. Man ist sich der Lage bewusst geworden,
allerdings noch unzureichend. Ohne Zweifel war die Last, die Jugoslawien
zu tragen hatte, zu schwer. Wir haben Unterstützung bekommen, aber nicht
genug, besonders von Ländern, auf die wir gezählt hatten...

Collon: Denken Sie dabei an Russland?

Jovanovic: Nichts ist ewig. Auch die gegenwärtige Lage Jugoslawiens
nicht. Ich bin gewiss, dass ebenso wie bestimmte Leute, die für die DOS
gestimmt haben, das bereuen werden, bestimmte europäische Länder bereuen
werden, dass sie Jugoslawien nicht stärker unterstützt haben und zu spät
begriffen haben. In einem alten serbischen Lied heißt es: "Der Bär tanzt
auf der Schwelle deines Onkels. Und nun kommt er zu deinem Haus."

Collon: Denken Sie, dass Sie auch Ihrerseits Fehler gemacht haben?

Jovanovic: Ja. Ich will mich nicht der Verantwortung entziehen. Wir
haben die innenpolitische und internationale Lage nicht realistisch
eingeschätzt. Wir haben nicht alle Faktoren berücksichtigt.

Collon: Zum Beispiel?

Jovanovic: Innenpolitisch haben wir die Stimmungslage der Menschen nicht
realistisch eingeschätzt. Wir hätten die Auswirkungen der Entbehrungen,
denen die Menschen nach zehn Jahren Sanktionen unterworfen waren, besser
beachten sollen. Die Leute widerstanden der Aggression, sie widerstanden
den Sanktionen, aber ihre Lebensbedingungen hatten sich wirklich zu sehr
verschlechtert. Und dann dieser Krieg!

Zweitens: Nach der Aggression haben wir alle Kraft für den Wiederaufbau
des Landes aufgeboten. Schulen, Krankenhäuser, Straßen, Brücken... Das
hat viel Kapital erfordert, und wir haben eine Abgabe auf die Löhne und
Renten erhoben. Dieser Wiederaufbau war für die Zukunft des Landes
wichtig, aber er hat die Lebensqualität nicht unmittelbar verbessert.
Wir hätten realistischer sein sollen, was die Investitionen anbelangt,
und weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der
Menschen ergreifen sollen.

Drittens gelang es uns nicht, den Handel zu kontrollieren. Wir ließen
zuviel Spielraum für habgierige Leute, die horteten, um die Preise
steigen zu lassen. Sie verkauften manchmal zum Doppelten oder Dreifachen
ihres Einkaufspreises! Ich sprach mit meinen Kollegen der für Wirtschaft
zuständigen Ministerien. Aber zu spät.

Collon: Viele haben Ihre Regierung wie auch Ihre Partei dafür
kritisiert, dass, während die große Mehrheit der Bevölkerung unter
extrem schwierigen Verhältnissen lebte, phantastische Vermögen gemacht
wurden. Einige lebten im Luxus und waren privilegiert.

Jovanovic: Einige Leute profitierten von ihrer Stellung, um sich auf
unrechtmäßige und unmoralische Weise zu bereichern. Jetzt tragen wir die
Folgen. Aber sie stellen nur eine Minderheit dar. Die große Mehrheit
unserer Sozialisten sind ehrliche Menschen, die sich für soziale
Gerechtigkeit, Bildung und Gesundheitsversorgung für alle einsetzen.

Collon: Warum haben Sie diese Erscheinung nicht energischer bekämpft?
Ist doch, was Sie beschreiben, nicht erst jüngeren Datums...

Jovanovic: Die Kräfteverhältnisse in meiner Partei waren für diesen
Kampf nicht günstig. Aber jetzt müssen wir diese Profiteure loswerden,
gründlich und rücksichtslos.

Collon: Viele Leute denken, dass Milosevic besser daran getan hätte,
Kostunicas Sieg gleich anzuerkennen.

Jovanovic: Ich weiß nicht, ob Kostunica 51 Prozent, 50 Prozent der
Stimmen oder etwas weniger hatte, und jetzt ist es mir auch egal.
Jedenfalls ist klar, dass er einen Vorsprung von zehn Prozentpunkten vor
Milosevic hatte und dabei war, zu gewinnen. Andererseits sind die
rechtlichen Formen einzuhalten. Man hätte überprüfen müssen, ob er 50
Prozent hatte, oder ob ein zweiter Wahlgang erforderlich war.

Collon: Ist der Sieg der DOS nicht das Resultat einer Reihe von
Faktoren?

Jovanovic: Unbedingt. Das Wesentliche, was ich uns vorwerfe und was ich
mir selbst vorwerfe, ist, die wirkliche Lage falsch eingeschätzt zu
haben. Auch wenn ich in meinem Wahlkreis in Pomoravije sehr gute
Ergebnisse erzielt und drei von sechs Stimmbezirken gewonnen habe,
vielleicht sogar vier nach erneuter Auszählung.

Collon: Die SPS hat in der Tat ihre Stimmenzahl gehalten...

Jovanovic: Ja, aber neu ist, dass es Washington gelungen ist, die
DOS-Opposition glaubwürdig zu machen. Angesichts dieser großen
internationalen Kampagne, die mit Millionen von Dollar finanziert wurde,
können wir zufrieden sein, die Stärke der SPS gehalten zu haben. Schade,
dass wir unsere Basis nicht erweitern konnten. Das wird unsere kommende
Aufgabe sein.

Übersetzung: Klaus von Raussendorff