Hilfstruppen gegen Moskau (I)
 
17.05.2016
BERLIN/KIEW/MOSKAU
 
(Eigener Bericht) - Eine Berliner Regierungsberaterin fordert den Ausschluss Russlands aus dem Europarat. Das Vorgehen der russischen Regierung gegen die Krimtataren und das Verbot ihres Medschlis, einer politischen Organisation, machten es in Verbindung mit anderen Maßnahmen "unmöglich, die russische Mitgliedschaft im Europarat weiterhin zu rechtfertigen", heißt es in einer aktuellen Stellungnahme aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die Forderung kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Krimtataren durch die offene Politisierung des Eurovision Song Contest (ESC) europaweit neue Aufmerksamkeit erhalten. Während ihre Deportation im Jahr 1944 die öffentliche Wahrnehmung beherrscht, gerät ihre NS-Kollaboration, die der Deportation vorausging, in den Hintergrund. Wie Historiker konstatieren, stand 1942 "jeder zehnte Tatar auf der Krim unter Waffen" - an der Seite des NS-Reichs. Krimtataren kämpften mit der Wehrmacht gegen die Sowjetunion, taten sich in der berüchtigten "Partisanenbekämpfung" hervor und lieferten jüdische Nachbarn den NS-Schergen aus. Schon in den 1920er Jahren hatten führende Tataren-Funktionäre anlässlich einer Moskauer Siedlungsmaßnahme zugunsten jüdischer Familien eine "Verjudung" ihrer Wohngebiete beklagt. Exil-Krimtataren stellten sich später, im Kalten Krieg, für Destabilisierungsbemühungen des Westens gegen Moskau zur Verfügung. In jener Tradition steht der Medschlis, der unter den Krimtataren selbst heute durchaus umstritten ist.
"Destruktives Verhalten"
In einer aktuellen Stellungnahme fordert Susan Stewart, eine Osteuropa-Expertin der vom Kanzleramt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), den Ausschluss Russlands aus dem Europarat. Wie Stewart behauptet, habe sich Russland immer wieder eines "destruktiven Verhalten[s] in der Parlamentarischen Versammlung" des Europarats schuldig gemacht - etwa, indem es "Koalitionen" mit "Gruppierungen wie den britischen Konservativen" eingegangen sei. Nun komme erstens hinzu, dass das Land im Dezember 2015 ein Gesetz verabschiedet habe, das es dem russischen Verfassungsgericht erlaube, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) "zu ignorieren, wenn diese der Verfassung der Russischen Föderation widersprechen". Zweitens schreite Russland auf der Krim gegen politische Vertreter der Krimtataren ein und habe im April deren "gewählte Vertretung", den Medschlis, "zu einer extremistischen Organisation erklärt und damit verboten". Stewart erklärt: "Diese Kombination macht es unmöglich, die russische Mitgliedschaft im Europarat weiterhin zu rechtfertigen."[1]
Nur im Hintergrund
Die Forderung aus der SWP kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Krimtataren und ihre Deportation im Jahr 1944 dank einer offenen Politisierung des Eurovision Song Contest (ESC) europaweit neue Aufmerksamkeit erhalten. In den Hintergrund geraten dabei in der öffentlichen Wahrnehmung die krimtatarische NS-Kollaboration und die erfolgreichen Bemühungen des NS-Reichs, die Minderheit für Ziele der deutschen Außenpolitik zu nutzen.
Zehn Prozent unter Waffen
Unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion, verstärkt gegen Ende 1941, als klar wurde, dass der neue Kriegsgegner nicht - wie noch im Vorjahr Frankreich - in einem "Blitzkrieg" besiegt werden konnte, wurden in Berlin Pläne entwickelt, sowjetische Sprachminderheiten ("Volksgruppen") zur NS-Kollaboration zu bewegen und sie für den Kampf gegen Moskau zu nutzen. Dabei gerieten im Auswärtigen Amt, aber auch im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete unter anderem die rund 200.000 Krimtataren ins Visier deutscher Strategen. Befeuert wurden die Überlegungen durch die Hoffnung, mit Hilfe der Krimtataren die offiziell neutrale Türkei in den Krieg ziehen zu können: Ankara verstand sich als Schutzmacht turksprachiger Minderheiten, unter ihnen die tatarische Sprachgruppe auf der Krim. Das Auswärtige Amt stellte erste Kontakte zu türkischen Generälen her, die für Belange der Tataren empfänglich waren, und im Dezember 1941 vermittelte es zwei krimtatarische Exilpolitiker aus der Türkei zur Planung der Kollaboration nach Berlin.[2] Die NS-Führung zögerte zunächst; ursprünglich war vorgesehen, die Bevölkerung der Krim mitsamt den Krimtataren vollständig zu vertreiben, um die Halbinsel unter anderem mit "volksdeutschen" Südtirolern zu besiedeln und sie ins Deutsche Reich einzugliedern. Weil der Krieg jedoch nicht die erwünschten Fortschritte machte, stimmte Adolf Hitler am 2. Januar 1942 der Rekrutierung tatarischer Soldaten für die Wehrmacht und am 18. Januar der Aufstellung eigener Tatarenformationen zu.[3]
Partisanenbekämpfung
Umgehend begann die Einsatzgruppe D, die zuletzt etwa im Dezember 1941 in einem Massaker in Simferopol (Krim) mehr als 13.000 Menschen ermordet hatte - darunter fast 11.000 Juden und über 800 Roma -, krimtatarische Freiwillige für den Krieg gegen die Sowjetunion zu rekrutieren. In über 200 Ortschaften und fünf Kriegsgefangenenlagern gelang es ihr, 9.225 Tataren zum Kampf an der Seite der Wehrmacht zu bewegen. Weitere 1.632 wurden zu "Tataren-Selbstschutzkompanien" formiert und unter Leitung der Einsatzgruppe D in der berüchtigten Partisanenbekämpfung eingesetzt. Im März war die Zahl der Krimtataren, die sich für den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zur Verfügung gestellt hatten, laut Angaben des Historikers Manfred Oldenburg auf ungefähr 20.000 gestiegen. Oldenburg resümiert: "Damit stand jeder zehnte Tatar auf der Krim unter Waffen" - auf Seiten des NS-Reichs.[4] Zwar habe es auch Krimtataren gegeben, "die überhaupt kein Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Deutschen hatten", und weitere, die als loyale Sowjetbürger von den Okkupanten "genau so unnachgiebig verfolgt wurden wie die übrigen Feindgruppen auf der Krim", konstatiert Oldenburg. Doch seien die Tataren "trotz der gelegentlich auftretenden passiven oder antideutschen Stimmungen" von der Wehrmacht mehrheitlich "als loyale und antibolschewistische Bundesgenossen angesehen" worden; sie hätten sich insbesondere durch "mutigen Einsatz ... im Kampf gegen die Partisanen" hervorgetan.
Vorzugsstellung
Im Gegenzug gegen die Kollaborationsleistungen gestanden die NS-Besatzer den Krimtataren durchaus eine Sonderrolle zu. So seien "tatarische Volksschulen eröffnet, tatarische Zeitungen und Zeitschriften gestattet und ein nationaltatarisches Theater organisiert" worden, berichtet Manfred Oldenburg; rund 50 Moscheen seien wiedereröffnet worden.[5] Bereits Ende 1941 hätten die Krimtataren eigene örtliche Komitees gründen dürfen - "zur Regelung der Schul-, Bildungs-, Religions- und Kulturangelegenheiten". In der Hoffnung auf umfassendere Selbstverwaltung sei "ein Großteil der Tataren bereit" gewesen, "mit den deutschen Besatzungskräften zu kollaborieren". Ebenfalls Ende 1941 begannen die NS-Okkupanten, Personen russischer Abstammung "im großen Umfang aus ihren Stellungen in Verwaltung und Wirtschaft" zu entfernen und sie "durch kollaborierende Krimtataren" zu ersetzen, schreibt Oldenburg. Durch ihre Vorzugsstellung motiviert, hätten die Tataren begonnen, "vor allem auf die Russen herabzusehen", was wiederum rasch "zu Unruhen unter der slawischen Bevölkerung" geführt habe. Gleichzeitig holten Berliner Stellen Krimtataren zu sich ins Reich, um dort einschlägiges Kontakt- und Hilfspersonal zur Verfügung zu haben. So entstand etwa auf Initiative des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete eine "Krimtatarische Leitstelle". Noch am 17. März 1945 erkannte das Ministerium zudem ein "Krimtatarisches Nationalkomitee" als offizielle Vertretung der Krimtataren an.[6]
"Jüdischer Bolschewismus"
Begünstigt hat die Kollaboration ein offenkundig starker Antisemitismus unter den Krimtataren. Wie aus Berichten hervorgeht, beklagten diese sich bei der Einsatzgruppe D über Maßnahmen der sowjetischen Regierung aus den 1920er Jahren. Moskau hatte 1924 begonnen, Juden aus ukrainischen und belarussischen Gebieten auf der Krim anzusiedeln. Führungsfunktionäre der Krimtataren protestierten dagegen, klagten über eine angebliche "Verjudung" der Halbinsel - und sprachen sich stattdessen für die Ansiedlung von Tataren aus der Türkei sowie aus anderen Staaten aus. "Antisemitische Gefühle" träten "besonders unter den Tataren offen zutage", hieß es in einem internen Bericht der sowjetischen Behörden, die daraufhin begannen, die Ansiedlungsmaßnahmen mit harter Hand durchzusetzen und den antisemitischen Widerstand zu brechen.[7] Für die Zeit ab Ende 1941 hält Oldenburg fest, "dass viele Tataren den Juden in gleicher Weise wie den Bolschewisten Verachtung entgegenbrachten und sie diejenigen Juden, die sich den Ghettoisierungsmaßnahmen und den anschließenden Massenexekutionen hatten entziehen können, fortlaufend bei der Militärverwaltung denunzierten".[8] Krimtatarische Propagandablätter berichteten von 1942 bis 1944 mit Sympathie etwa von Vorträgen, in denen unter Titeln wie "Die Juden sind die Feinde aller Völker" behauptet wurde, Juden seien "blutdurstige Wilde"; es gelte nun, den "totalen Krieg" gegen den "jüdischen Bolschewismus" führen.[9]
Verbrannte Erde
Den von den Krimtataren unterstützten Deutschen fielen auf der Krim bis zur Befreiung der Halbinsel vom NS-Terror mehr als 200.000 sowjetische Soldaten und Partisanen, 20.500 Militär- und 8.000 Zivilgefangene, 38.000 Juden sowie Tausende Roma zum Opfer. Als die Okkupanten abzogen, hinterließen sie verbrannte Erde - und dankten den Krimtataren die Kollaboration, indem sie rund 80 krimtatarische Siedlungen zerstörten und einen Großteil der Bewohner umbrachten.[10]
Die deutschen Bemühungen, die Krimtataren für außenpolitische Ziele einzuspannen, endeten mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht; die Bundesrepublik setzte sie unter veränderten Rahmenbedingungen und in veränderter Form fort. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.

[1] Susan Stewart: Der Europarat sollte auf Russlands Mitgliedschaft verzichten. www.swp-berlin.org 11.05.2016.
[2] Johannes Hürter: Nachrichten aus dem "Zweiten Krimkrieg" (1941/42). Werner Otto von Hentig als Vertreter des Auswärtigen Amts bei der 11. Armee. In: Christian Hartmann, Johannes Hürter, Peter Lieb, Dieter Pohl: Der deutsche Krieg im Osten 1941-1944. Facetten einer Grenzüberschreitung. München 2009. S. 369-391. Hier: S. 382f.
[3] Manfred Oldenburg: Ideologie und militärisches Kalkül. Die Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion 1942. Köln/Weimar/Wien 2004. S. 121.
[4] Ebd., S. 122, sowie: Mikhail Tyaglyy: Antisemitic Doctrine in the Tatar Newspaper Azat Kirim (1942-1944). In: Dapim - Studies on the Holocaust 25/1 (2011). S. 161-182.
[5] Manfred Oldenburg: Ideologie und militärisches Kalkül. Die Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion 1942. Köln/Weimar/Wien 2004. S. 120.
[6] Halil Burak Sakal: Germany and Turkestanis during the course of the World War II (1941-1945). Ankara 2010.
[7] Mikhail Tyaglyy: Antisemitic Doctrine in the Tatar Newspaper Azat Kirim (1942-1944). In: Dapim - Studies on the Holocaust 25/1 (2011). S. 161-182. Hier: S. 172ff.
[8] Manfred Oldenburg: Ideologie und militärisches Kalkül. Die Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion 1942. Köln/Weimar/Wien 2004. S. 121.
[9] Mikhail Tyaglyy: Antisemitic Doctrine in the Tatar Newspaper Azat Kirim (1942-1944). In: Dapim - Studies on the Holocaust 25/1 (2011). S. 161-182. Hier: S. 170.
[10] Erich Später: Der Dritte Weltkrieg (18). In: konkret 6/2014, S. 22f.



Hilfstruppen gegen Moskau (II)
 
18.05.2016
BERLIN/KIEW/MOSKAU
 
(Eigener Bericht) - Eine in Russland verbotene, von Berlin jedoch unterstützte Organisation der Krimtataren kündigt die Eröffnung offizieller Vertretungsbüros in Brüssel und Washington an. Wie der Medschlis der Krimtataren mitteilt, will er beide Einrichtungen spätestens im Herbst eröffnen; der Brüsseler Repräsentanz messe er besondere Bedeutung bei. Der Medschlis, der in der westlichen Öffentlichkeit gemeinhin als einzig legitimes Gesamtorgan der Krimtataren dargestellt wird, vertritt tatsächlich nur eine Strömung unter den Krimtataren - eine prowestliche -, während eine zweite - eher prorussische - seine Politik seit Jahren dezidiert ablehnt. Die Spaltung unter den Krimtataren geht auf die letzten Jahre des Kalten Kriegs zurück, als ein jahrzehntelanger Parteigänger des Westens, der spätere Medschlis-Vorsitzende Mustafa Dschemiljew, sich für radikale Autonomieforderungen stark machte und einen scharf antirussischen Kurs einschlug. Als Dschemiljew in den 1960er Jahren in der Sowjetunion begann, für krimtatarische Autonomie zu agitieren, und vom Westen unterstützt wurde, um den sowjetischen Gegner von innen heraus zu schwächen, setzten sich Exil-Krimtataren in der Bundesrepublik für dasselbe Ziel ein - die "nationale Dekomposition Russlands", wie es damals hieß. Zu ihnen gehörte der zentrale krimtatarische Kontaktmann des NS-Reichs, der seine Kollaborationstätigkeit nun in der Bundesrepublik weiterführte und ab den 1950er Jahren auch für CIA-finanzierte Organisationen in München arbeitete.
Unruheherde
Die Bemühungen der Bundesrepublik und weiterer westlicher Staaten, insbesondere der USA, die Krimtataren in der Zeit des Kalten Kriegs für außenpolitische Zwecke zu nutzen, mussten von den Bedingungen ausgehen, die die Kollaboration der Tataren mit den NS-Okkupanten von 1941 bis 1944 geschaffen hatte. In Reaktion auf die Kollaboration [1] hatte die sowjetische Regierung die rund 200.000 Krimtataren im Mai 1944 in die zentralasiatischen Regionen der Sowjetunion, vor allem ins heutige Usbekistan, deportieren lassen - unter gräßlichen Bedingungen: Zahlreiche Krimtataren kamen bei der Deportation oder bald danach ums Leben; zuverlässige Angaben über die Opferzahlen liegen dabei nicht vor. Anfang der 1960er Jahre begannen krimtatarische Aktivisten, ein Recht auf Rückkehr auf die Krim für sich einzufordern; damit verbanden sie das Verlangen nach politischer Autonomie. Letzteres wiederum war für die westlichen Mächte interessant. Noch bis in die 1950er Jahre hatten sie zum Beispiel, um Moskau zu schwächen, ukrainische Nationalisten unterstützt, die mit allen Mitteln dafür kämpften, die Ukraine aus der Sowjetunion herauszubrechen (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Das Streben der Krimtataren nach Autonomie schien eine Chance zu bieten, nach der Niederschlagung der Unruhen in der Ukraine durch die sowjetischen Behörden einen weiteren Herd der Instabilität im Innern des gegnerischen Staates zu schüren.
Appelle an den Westen
Eine herausragende Rolle hat in diesem Zusammenhang Mustafa Dschemiljew gespielt, der bis heute eine der wichtigsten Kontaktpersonen der deutschen Außenpolitik unter den Krimtataren ist. Bereits in den Jahren 1961/62 stand er, damals gerade 18 Jahre alt, als einer der Gründer der "Union der Krimtataren-Jugend" in erster Reihe des krimtatarischen Autonomiekampfes, den er verschärfte, nachdem seine Minderheit 1967 in Moskau vom Vorwurf der kollektiven NS-Kollaboration freigesprochen worden war. Mitte der 1970er Jahre ist er der westlichen Öffentlichkeit als Mitkämpfer des sowjetischen Regierungsgegners und Friedensnobelpreisträgers (1975) Andrej Sacharow bekannt geworden; damals machten Berichte über seinen Hungerstreik und über weitere krimtatarische Proteste die Runde. So war Dschemiljew 1974 festgenommen worden, weil er vorhatte, US-Präsident Richard Nixon bei dessen damals kurz bevorstehendem Moskau-Besuch öffentlichkeitswirksam eine Petition zur Lage der Krimtataren zu überreichen - als Appell, Druck auf die sowjetische Regierung auszuüben. 1986 wurde er, zum wiederholten Male in Haft geraten, auf Intervention von US-Präsident Ronald Reagan vorzeitig entlassen. Für die Bemühungen des Westens, einerseits Unruhe in der Sowjetunion zu schüren, andererseits Moskau bei Eintreten der zu erwartenden polizeilich-geheimdienstlichen Gegenwehr auf internationaler Bühne der Repression zu beschuldigen, besaßen Personen wie Dschemiljew eine hohe Bedeutung.
Kontaktmann des NS-Reichs
Dabei haben die westlichen Staaten stets auch versucht, Exil-Krimtataren für ihre Politik zu nutzen - in der Hoffnung, über sie in die Sowjetunion hineinwirken oder sie zumindest für ihre Propaganda einspannen zu können. Zu den einflussreichsten unter den Exil-Krimtataren gehörte der in der Bundesrepublik ansässige Edige Kirimal. Kirimal, 1911 geboren und auf der Krim aufgewachsen, floh Anfang der 1930er Jahre nach Istanbul, wo er Kontakt zu prominenten krimtatarischen Exilpolitikern aufnahm. Ende 1941 gehörte er zu den zwei Exil-Krimtataren, die vom deutschen Botschafter in der Türkei, Franz von Papen, nach Berlin vermittelt wurden, um dort bei der Planung der Kollaboration auf der Krim behilflich zu sein.[3] Kirimal blieb als zentraler Vermittler zwischen dem NS-Regime und den Krimtataren im Reich, führte dort die "Krimtatarische Leitstelle" und wurde kurz vor Kriegsende von seinem vielleicht wichtigsten Berliner Kontaktmann, Gerhard von Mende, zum "Präsidenten" eines "krimtatarischen Nationalkomitees" ernannt [4]. Von Mende arbeitete im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, zunächst als Leiter des Referats Kaukasien/Turkestan, ab 1943 als Leiter der Führungsgruppe III Fremde Völker; er galt als wohl bedeutendster Stratege einer politischen Nutzung sowjetischer Sprachminderheiten, die er für die NS-Kollaboration zu gewinnen empfahl, um sie als Hilfstruppen für den Kampf gegen Moskau zu verwenden. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte von Mende seine Kenntnisse und seine Netzwerke erneut für den Kampf gegen die Sowjetunion zur Verfügung - diesmal der Bonner Regierung und ihren neuen westlichen Verbündeten.[5]
Nationale Dekomposition
Zu den Personen, mit denen von Mende dabei weiterhin zusammenarbeitete, gehörte der bisherige NS-Kontaktmann Kirimal. Kirimal suchte sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem als Publizist zu krimtatarischen Themen hervorzutun; seine erste größere Schrift, die er 1952 unter dem Titel "Der nationale Kampf der Krim-Türken" veröffentlichte, promotete von Mende mit einem Vorwort. In einer werbenden Kurzrezension sinnierte Ende 1952 "Der Spiegel", Kirimal rühre "mit seinem Buch an die 'zeitlose' Problematik aller Gegner Rußlands: Wie ist diesem Koloß beizukommen? ... Soll man den 'Moskauer Zentralismus' anerkennen oder die zentrifugalen nationalistischen Kräfte des russischen Raumes fördern?" Kirimal neigte offenkundig der zweiten Lösung zu, ganz wie von Mende. "Kirimals Buch ist von Reichs-Ost-Minister Alfred Rosenbergs Berater, Prof. Gerhard von Mende, eingeleitet", fuhr "Der Spiegel" fort: "Von Mende war (und ist es offenbar geblieben) ein Anhänger der 'nationalen Dekomposition Rußlands', das heißt der Aufteilung des Riesenreichs in eine möglichst große Zahl nationaler Klein-Staaten".[6] Im Sinne dieser Strategie arbeitete von Mendes Schützling Kirimal seit den 1950er Jahren für den CIA-finanzierten Sender "Radio Free Europe" in München, bei dem sich diverse weitere "Volksgruppen"-Aktivisten aus von Mendes Netzwerken tummelten, dann für das ebenfalls CIA-finanzierte Münchner "Institut zur Erforschung der UdSSR" [7], für das er eine Zeitschrift ("Dergi") herausgab. Das antikommunistische Exil, in dessen Kreisen sich Kirimal in München bewegte, umfasste nicht zuletzt ukrainische Faschisten [8] - ein Milieu, mit dem Krimtataren um Dschemiljew jüngst bei der Blockade der Krim erneut kooperierten (german-foreign-policy.com berichtete [9]).
Die Spaltung der Krimtataren
Während Kirimal 1980 starb und den Untergang der Sowjetunion nicht mehr erlebte, konnte Dschemiljew 1989 die offizielle Aufhebung des Rückkehrverbots für die Krimtataren nutzen und sich wieder auf der Halbinsel niederlassen. Auf die damalige Zeit geht eine Spaltung unter den Krimtataren zurück, die bis heute gravierende politische Folgen zeitigt. 1988 gründete einer der bekanntesten Krimtataren-Anführer neben Dschemiljew, Jurij Osmanow, die "Nationale Bewegung der Krimtataren" (NDKT). Während Osmanow und die NDKT sich mit der Rückkehr auf die Krim zufriedengaben und eine gedeihliche Zusammenarbeit mit den anderen Bevölkerungsgruppen dort sowie mit den staatlichen Behörden favorisierten, spaltete sich 1989 unter Mustafa Dschemiljew die radikalere "Organisation der krimtatarischen Nationalbewegung" (OKND) ab.[10] Dschemiljew und die OKND verlangten ausdrücklich völkisch definierte Sonderrechte - eine krimtatarische "Autonomie" - und beriefen, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, 1991 auf der Krim einen "Kurultaj" ein, eine krimtatarische Nationalversammlung, die den "Medschlis" wählte, der als krimtatarisches Exekutivorgan firmiert. Während Osmanow und die NDKT - wohl auch wegen des traditionell starken russischen Einflusses auf der Krim - auf gute Beziehungen auch zu Russland nicht verzichten wollten, folgten Dschemiljew und die OKND einem prowestlichen, gegen Moskau gerichteten Kurs. Dschemiljew übernahm 1991 den Vorsitz des Medschlis, Osmanow wurde 1993 unter ungeklärten Umständen ermordet.
Keine Mehrheit mehr
War der Medschlis unter den Krimtataren zu Beginn der 1990er Jahre deutlich populärer als die NDKT, so hat sich dies im Laufe der Zeit geändert. Ende 2010 konstatierten die an der Universität Bremen publizierten "Ukraine-Analysen" einen "sinkende[n] Rückhalt" des Medschlis bei den Krimtataren. "Neue Akteure" seien "auf die politische Bühne getreten", die die "Führungsrolle" des Medschlis nicht mehr befürworteten, hieß es; der Umstand, dass die Organisation ihre "Monopolstellung verloren" habe und "nicht mehr die Unterstützung der Mehrheit der Krimtataren" genieße, werde im Westen "gemeinhin außer Acht gelassen".[11] Die "Ukraine-Analysen" wiesen auf die 2006 aus der NDKT heraus gegründete Partei Milli Firka hin, die "von Anfang an ... eine pro-russische Position" verfochten habe - im Gegensatz zum Medschlis, der sich von der Türkei unterstützen lasse und die Kräfte der Orangenen Revolution gefördert habe. Die Polarisierung unter den Krimtataren hat sich im Laufe der Zeit weiter zugespitzt. Im Mai 2013 - also noch vor dem Beginn der Majdan-Proteste - berichtete die US-amerikanische Jamestown Foundation von kräftig wachsenden Spannungen zwischen den beiden Flügeln.[12]
Strommasten gesprengt
Diese Spannungen sind mit den Majdan-Protesten und der anschließenden Abspaltung der Krim eskaliert. Milli Firka stellte sich gegen die Majdan-Proteste, warb für die Beteiligung am Sezessionsreferendum und befürwortete die Angliederung der Halbinsel an Russland. Der Medschlis unterstützte den Majdan und rief zum Boykott des Referendums auf; Dschemiljew forderte sogar, einen NATO-Einsatz auf der Krim in Betracht zu ziehen.[13] Dschemiljew und der Medschlis kämpfen weiterhin für die Rückgabe der Krim an die Ukraine. Dabei schrecken sie auch vor Gewalt nicht zurück: Im Herbst initiierten Aktivisten aus ihren Reihen gemeinsam mit ukrainischen Faschisten eine Blockade der Krim, in deren Verlauf sie Straßen für den Warentransport sperrten und mit der Sprengung von Strommasten die Stromversorgung auf der Krim lahmlegten; damit fügten sie der Bevölkerung der Krim gravierende Schäden zu (german-foreign-policy.com berichtete [14]). Während die russischen Behörden den Medschlis am 18. April als terroristische Organisation einstuften und ihn deshalb am 26. April verboten, hat die Vereinigung angekündigt, Vertretungsbüros in Washington, "vor allem" aber in Brüssel eröffnen zu wollen [15] - ein deutlicher Hinweis auf ihre Bereitschaft, sich dem Westen noch stärker als bisher als Hilfstrupp gegen Russland andienen zu wollen. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.

[1] S. dazu Hilfstruppen gegen Moskau (I).
[2] S. dazu Zwischen Moskau und Berlin (V).
[3] Johannes Hürter: Nachrichten aus dem "Zweiten Krimkrieg" (1941/42). Werner Otto von Hentig als Vertreter des Auswärtigen Amts bei der 11. Armee. In: Christian Hartmann, Johannes Hürter, Peter Lieb, Dieter Pohl: Der deutsche Krieg im Osten 1941-1944. Facetten einer Grenzüberschreitung. München 2009. S. 369-391. Hier: S. 382f. S. dazu Hilfstruppen gegen Moskau (I).
[4] Ian Johnson: A Mosque in Munich. New York 2010. S. 274f.
[5] S. auch Heimatdienst.
[6] Edige Kirimal: Der nationale Kampf der Krim-Türken. Der Spiegel, 10.12.1952.
[7] Gudrun Hentges: Staat und politische Bildung. Von der "Zentrale für Heimatdienst" zur "Bundeszentrale für politische Bildung". Wiesbaden 2013.
[8] S. dazu Alte, neue Verbündete und Ein Sammelpunkt der OUN.
[9] S. dazu Die Belagerung der Krim (I).
[10] Maximilian von Platen: Die Rückkehr der Krimtataren in ihre historische Heimat. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien: Aktuelle Analysen Nr. 33/1997.
[11] Yuliya Borshchevska: Neue politische Zersplitterung auf der "Insel der Krimtataren". Radikalisierung des politischen Programms? In: Ukraine-Analysen Nr. 84, 14.12.2010. S. 2-5.
[12] Idil P. Izmirli: Growing Sense of Polarization and Escalating Tensions in Crimea Ahead of 69th Anniversary of Crimean Tatar Deportation. www.jamestown.org 17.05.2013.
[13] Dario Thuburn:NATO should intervene in Crimea "before massacre': Tatar leader. uk.news.yahoo.com 13.03.2014.
[14] S. dazu Die Belagerung der Krim (I).
[15] Mejlis representations may open in Brussels, Washington in autumn. www.unian.info 22.04.2016.