1. »Racak-Massaker«: Kritik an einseitiger Schuldzuweisung an serbische
Seite (J. Elsaesser / Junge Welt)

2. Dokument: MONITOR Nr. 471 vom 08.02.2001, "Neue Zweifel am Massaker
von Racak"


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http://www.jungewelt.de/2004/01-27/005.php

Junge Welt, 27.01.2004

Ausland
Jürgen Elsässer

Entlastung für Milosevic

»Racak-Massaker«: Kritik an einseitiger Schuldzuweisung an serbische
Seite

Fünf Jahre nach dem Jugoslawien-Krieg ist eine der wichtigsten
Begründungen der NATO für ihre angeblich humanitäre Intervention erneut
schwer erschüttert worden. Die Anklage des Haager Tribunals legt dem
früheren jugoslawischen Präsidenten Milosevic bekanntlich nur ein
Verbrechen im Kosovo aus der Zeit vor dem Kriegsbeginn am 24. März 1999
zur Last: das sogenannte Massaker von Racak vom 15. Januar 1999. In
Racak waren am Morgen des 16. Januar 1999 mehr als vierzig Leichen von
Albanern gefunden worden.
Die finnische Gerichtsmedizinerin Helena Ranta, die die Leichen im
Auftrag der Europäischen Union untersuchte, hatte nach Abschluß der
Autopsie am 17. März 1999 als gesichert dargestellt, daß alle Opfer
»unbewaffnete Zivilisten« gewesen seien. In Racak habe sich ein »crime
against humanity«, ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« ereignet –
eine Formulierung aus den Nürnberger Prozessen gegen die
Nazivölkermörder. Damit hatte sie der NATO-Version vom scheußlichen
serbischen Verbrechen wissenschaftliche Weihen verliehen.

Überraschend vollzog Ranta vor kurzem eine Kehrtwende und kritisierte
in der Berliner Zeitung vom 17. Januar, daß die Anklageschrift des
Haager Tribunals gegen den jugoslawischen Expräsidenten Milosevic im
Fall Racak weitgehend der Tatversion des damaligen OSZE-Missionschefs
und US-Botschafters William Walker folgt. »Wenn Botschafter Walker
sagt, daß es sich in Racak um ein Massaker gehandelt habe, hat diese
Aussage keinerlei rechtliche Wirkung. Ich habe schon damals erklärt,
daß die OSZE-Beobachter sämtliche Schritte, die man bei der Sicherung
eines Tatorts normalerweise erwartet, vergessen haben.« Für sie sei
klar gewesen, daß in den Tagen vor Kriegsbeginn »eine ganze Reihe von
Regierungen Interesse an einer Version der Ereignisse von Racak hatten,
die allein die serbische Seite verantwortlich machte«.

Diese Schelte trifft das Haager Tribunal auf der Zielgeraden des
Milosevic-Prozesses, der – nicht nur – im Falle Racak für die Anklage
sehr unbefriedigend verlaufen ist. So hatte John Drewienkiewicz,
operativer Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, in seiner schriftlichen
Aussage zunächst behauptet, nichts von militärischen
Auseinandersetzungen am fraglichen Tag in Racak zu wissen. Auf
Milosevics Antrag wurde dann eine Videoaufnahme der Nachrichtenagentur
AFP gezeigt, auf der deutlich Gefechtslärm zu hören ist.
Der General bekannte, es sei »das erste Mal«, daß er davon höre, »dort
hätte es Zusammenstöße gegeben«.

Drei albanische Zeugen hatten in aller Ausführlichkeit von allerhand
Scheußlichkeiten in Racak berichtet. So sollen die serbischen
Sicherheitskräfte ihren Opfern die Augen ausgestochen und ihre Herzen
aus dem Leib geschnitten haben. Milosevic wies darauf hin, daß bei der
vierwöchigen gerichtsmedizinischen Untersuchung der Leichen keinerlei
solche Verletzungen hatten festgestellt werden können.

Ian Robert Hendrie, ein Londoner Polizist der OSZE-Mision im Kosovo,
zeigte in Den Haag Fotos der Racak-Leichen. Milosevic fragte nach,
warum unter den Leichen nur kleine Blutansammlungen zu sehen seien und
keine größeren Blutlachen, und warum, obwohl die Leichen zum Teil
übereinander lagen und gleichzeitig exekutiert worden sein sollen, kein
Blut von einem auf den anderen Toten gespritzt sei. Ein Indiz dafür,
daß man die leblosen Körper post mortem zusammengetragen und TV-wirksam
arrangiert hatte?

Aufschlußreich war auch die Aussage von Shukri Buja, des Kommandanten
der sogenannten Kosovo-Befreiungsarmee nationalistischer Albaner von
Racak. Dieser berichtete vor Gericht über die Bewaffnung seiner Einheit
mit Mörsern und schweren Maschinengewehren. Milosevic kommentierte:
»Ich bin froh, daß Sie das klargestellt haben, denn ... ein Zeuge aus
Racak hat ausgesagt, Ihre Männer seien nur mit Jagdgewehren bewaffnet
gewesen.« Wenn in Racak kein Massaker, sondern ein Gefecht
stattgefunden hat, bleibt aus der Haager Anklageschrift gegen Milosevic
also kein Verbrechen mehr, das dem damaligen Staatschef aus der Zeit
vor Kriegsbeginn zur Last gelegt werden könnte.

»Natürlich war die Episode in Racak entscheidend für die
Bombardierungen«, erklärte Walker. Auch für den deutschen Außenminister
Joseph Fischer war Racak ein »Wendepunkt«. Die Washington Post faßte
zusammen, Racak habe »die Balkan-Politik des Westens in einer Weise
geändert, wie Einzelereignisse dies selten tun«.

Die Regierung in Belgrad hatte die Massaker-Version von Anfang an
dementiert und behauptet, bei den Toten habe es sich um Kämpfer der
Terrororganisation UCK gehandelt, die im Gefecht gefallen und aus
weiterem Umkreis zusammengetragen worden seien. Nachdem
Gerichtsmedizinerin Ranta am 17. März 1999 öffentlich dieser
Darstellung widersprochen hatte, begann eine Woche später der Krieg
gegen Jugoslawien.

In dem Artikel in der Berliner Zeitung war nun zu lesen, daß Ranta
wisse, daß damals »UCK-Kämpfer in der Nähe von Racak begraben wurden«,
und sie habe »schon seinerzeit Informationen erhalten, die beweisen,
daß dort auch mehrere serbische Soldaten erschossen wurden«. Die
Einschätzung, daß verschiedene Regierungen Interesse an einer Belastung
der serbischen Seite hatten, hatte die Finnin bereits im Frühjahr 2001
in ähnlicher Weise gegenüber dem ARD-Nachrichtenmagazin »Monitor«
geäußert. Leider hat sie sich in der Folge von ihren Worten distanziert
und behauptet, die »Monitor«-Kollegen hätten ihre Aussagen verkürzt
widergegeben. Gegenüber dem Spiegel drohte sie sogar mit einer Klage
gegen den Film. Aus gutem Grund kam es nie dazu.

Bei ihrer Aussage im Haager Prozeß gegen Milosevic vermißte man die
vorher gegenüber »Monitor« und nun gegenüber der Berliner Zeitung
geäußerten Klarstellungen. Vielmehr verteidigte sie im gesamten
mehrstündigen Kreuzverhör am 12. März 2003 ihre ursprüngliche These von
den zivilen Opfern in Racak, obwohl sie auf Nachfragen Milosevics
einräumen mußte, sie habe einen wichtigen Test nicht vorgenommen: die
Untersuchung auf Schmauchspuren an den Händen der Toten. Damit hätte
sich nachweisen lassen, ob diese vor ihrem Ableben selbst geschossen
hatten.

Anders als Ranta ist ein weiterer wichtiger Zeuge bisher konsequent bei
seiner Darstellung der Ereignisse geblieben. General Heinz Loquai war
im Frühjahr 1999 Leiter der deutschen Militärmission bei der OSZE in
Wien. Über seinen Schreibtisch liefen die Berichte der 1 400
OSZE-Beobachter aus dem Kosovo. Nachdem er im Frühjahr 2000 in seinem
ersten Buch von einem »vermeidbaren Krieg« gesprochen hatte,
verlängerte das Verteidigungsministerium seine Anstellung bei der OSZE
nicht. Im letzten Jahr hat der Pensionär sein zweites Werk vorgelegt,
das – so der Titel – die »Weichenstellung für einen Krieg« untersucht.
Die Ereignisse von Racak bilden dabei einen Schwerpunkt. Unter anderem
präsentiert Loquai erstmals ein Dossier der deutschen Militärspionage
(»Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr«), das von »Manipulationen am
Tatort« spricht, »nur ein Teil der 45 Opfer (sei) an ihrem Fundort
umgebracht worden«, ein Teil sei »bei Kämpfen mit den serbischen
Sicherheitskräften ums Leben gekommen«.


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MONITOR (ARD)
Nr. 471 vom 08.02.2001

Neue Zweifel am Massaker von Racak

Bericht: Jo Angerer, Mathias Werth, Andreas Maus

Volker Happe: "Vor zwei Jahren, im März 1999, begann die NATO ihren
Krieg gegen Jugoslawien - aus angeblich 'humanitären Gründen'. Unter
den Kriegsfolgen leiden die Menschen in Jugoslawien noch heute.
Giftiger Uranstaub und NATO-Blindgänger gefährden die Bevölkerung im
Kosovo, die
Umweltfolgen der NATO-Luftangriffe sind bis heute nicht abschätzbar.
Der Krieg hat - wie man heute weiß - die Probleme im Kosovo nicht
gelöst, sondern verschärft. Es waren die Bilder von Massakern,
ethnischen Säuberungen und Grausamkeiten der Serben, die auch bei uns
Stimmung machten für diesen Krieg. Bilder, die sich heute vielfach als
Kriegspropaganda der NATO entpuppen. Wichtiger Grund für den Krieg
damals: das angebliche Massaker von Racak. Doch daran gab es von Anfang
an Zweifel. Zweifel, die neue Recherchen jetzt erhärten. Ein Bericht
von Jo Angerer, Mathias Werth und Andreas Maus."


Das Dorf dieser Kinder im Kosovo ist klein, doch sein Name weltberühmt:
Racak. Hier sollen Serben ein grausames Massaker verübt haben, ein
Massaker, das mit zu den NATO-Angriffen führte.

Racak am 16. Januar 1999: William Walker, amerikanischer Leiter der
Beobachter-Mission im Kosovo, kam mit mehreren Kamerateams. Sie fanden
44 Tote. Ein Massaker, sagte Walker, keine Opfer des Bürgerkrieges
zwischen UCK und Serben - eine Massenhinrichtung.

William Walker, OSZE-Missionsleiter am 16. Januar 1999: "Diese Leichen
zu sehen, mit weggeschossenen Gesichtern, weil man ihnen die Waffen
offenbar direkt auf den Kopf gesetzt hatte, 15 davon offenbar wie bei
einer Exekution hingerichtet - da brauche ich einfach ein paar Minuten,
um mich zu fassen, um meine Worte wieder zu finden."

Doch was war wirklich in Racak geschehen? Hier in der Universität
Pristina hatte die finnische Pathologin Helen Ranta die Toten
untersucht. Ihr kamen Zweifel an einem Massaker in Racak. Ihre
Untersuchungen lassen auch einen anderen Schluss zu. Zum ersten Mal
äußert sie sich dazu im Fernsehen.

Dr. Helen Ranta, leitende Pathologin: "Ich bin mir bewusst, dass man
sagen könnte, die ganze Szene in diesem kleinen Tal sei arrangiert
gewesen. Ich bin mir dessen bewusst. Denn dies ist tatsächlich eine
Möglichkeit. Diesen Schluss legen unsere ersten Untersuchungsergebnisse
genauso nah, wie auch unsere späteren forensischen Untersuchungen, die
wir im November 1999 direkt vor Ort vorgenommen haben. Und diese
Schlussfolgerung haben wir auch direkt an den Gerichtshof nach Den Haag
weitergegeben. Botschafter Walker kam am Samstag nach Racak, und es war
seine persönliche Entscheidung von einem 'Massaker' zu sprechen. Ich
habe es systematisch vermieden, dieses Wort zu
verwenden."

Zweifel, ob es ein Massaker gab. Was sonst könnte zu den Ereignissen in
Racak geführt haben? Helen Ranta hat Hinweise, dass unter den Toten
auch Soldaten der UCK waren.

Dr. Helen Ranta, Leitende Pathologin: "Racak war damals ein Hochburg
der UCK. Meiner Überzeugung nach gibt es genug Informationen, um
nachzuvollziehen, dass es dort Gefechte zwischen der serbischen Armee
und der UCK gegeben hat. Daran gibt es überhaupt keine Zweifel.
Außerdem wurde mir mitgeteilt, und ich habe auch die Informationen
darüber lesen können, dass UCK-Kämpfer dort an diesem Tag getötet
wurden."

Was war in Racak passiert? Aufnahmen vom 15. Januar 1999: Serbische
Polizisten durchkämmen Straßen und Häuser in Racak. Zuvor hatte es
Angriffe der UCK gegeben. Erst später wird man hier die 44 Toten finden.

War das vermeintliche Massaker möglicherweise Folge einer militärischen
Auseinandersetzung zwischen UCK und Serben? Ein UCK-Kämpfer von damals
erinnert sich:

Zymer Lubovci, UCK-Mitglied: "Wir sahen die Serben kommen, also gingen
wir in Stellung und eröffneten das Feuer. Uns war schon klar, dass die
nach jedem unserer Angriffe Rache an den Zivilisten nahmen."

Racak - Folge einer Provokation der UCK? Im amerikanischen
Außenministerium, hier in Washington, ahnte man dies, sagt einer, der
die geheimen Berichte der US-Regierung kennt.

Wayne Merry, damaliger Berater der US-Regierung: "Es ist gar keine
Frage, dass die UCK kaltblütig kalkuliert hat, dass der Verlust ihrer
eigenen Zivilisten und deren weltweite Präsentation als Opfer, die
Voraussetzung war, um eine militärische Intervention des Westens zu
erreichen."

Auch dem deutschen Verteidigungsminister waren Zweifel an Walkers
Darstellung von einem Massaker bekannt. Denn in diesem vertraulichen
Bericht des Bundesverteidigungsministeriums zur Lage im Kosovo heißt es:

"Die Albaner waren vermutlich am 15.01.1999 während des Angriffs der
serbischen Sicherheitspolizei gegen in der Ortschaft vermutete
Angehörige der UCK getötet worden."

Und einen Tag später, heißt es ergänzend:

"Der Leiter der KVM [der OSZE-Mission im Kosovo], Walker, räumte am
22.01.1999 in Pristina ein, dass ihm bei seinen Beobachtungen in Racak
möglicherweise nicht alle Umstände der Ereignisse bekannt gewesen
seien."

Auch in den USA machte Racak Schlagzeilen, und der Ruf nach der NATO
wurde lauter. Das war für William Walker entscheidend.

William Walker, damaliger OSZE-Missionsleiter im Kosovo: "Es hat die
Meinung in Europa und in Nordamerika, einschließlich der OSZE,
einschließlich der Europäischen Union, verstärkt, dass nun etwas
geschehen musste. Es war der Anfang der Entwicklung, die schließlich
zur Bombardierung führte."

Die Toten von Racak. Nie wird wohl die ganze Wahrheit bekannt. Doch die
Toten wurden benutzt, um Zweifel am Sinn der NATO-Angriffe verstummen
zu lassen. Auch der damals leitende Bundeswehr-General bei der OSZE,
hatte vergeblich gewarnt.

Heinz Loquai, General a. D., OSZE: "Walker hat etwa 30 Journalisten um
sich versammelt, ist mit denen dahin gefahren, und hat nach kurzer Zeit
verkündet, dass es sich um ein Massaker der Serben handele. Zu dieser
Zeit konnte er überhaupt noch kein Urteil fällen, aber dieses Urteil
wurde von
der OSZE übernommen, wurde von den Vereinten Nationen übernommen, wurde
kritiklos von allen nationalen Regierungen übernommen. Die NATO kam am
Tag darauf zu einer Sondersitzung zusammen, ein völlig ungewöhnliches
Ereignis. Man kann schon sagen, mit diesem Verhalten hat Walker die
Lunte zum Krieg gezündet."


Volker Happe: "Zu einem Krieg, der völkerrechtswidrig war, das Leben
von zahlreichen Zivilisten kostete und für den auch deutsche Politiker
die Verantwortung tragen. Was geschah wirklich im Kosovo und was war
Propaganda, mit der die deutsche Öffentlichkeit gezielt getäuscht
wurde? Dies ist das
Thema einer sehenswerten Dokumentation meiner MONITOR-Kollegen Jo
Angerer und Mathias Werth, die gleich im Anschluss an MONITOR um 21.45
Uhr hier im Ersten ausgestrahlt wird."