Milosevic: Das war Mord

1. Aus Leserbriefen an die "junge Welt" Redaktion

2. »Das war Mord« (jW 13.3)
3. »Höhepunkt des Verbrechens am serbischen Volk« (jW 15.3)
4. »Haager Tribunal muß geschlossen werden«. Gespräch mit Natalia
Narotchnitskaya (jW 16.3)

5. Neues zum Kampf um Racak
Mit dem Tod von Slobodan Milosevic ging der Haager Prozeß vorzeitig zu
Ende. Die dort ermittelten Fakten sollten jetzt die Historiker
beschäftigen. Von Bo Adam (jW 24.3)


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Aus Leserbriefen an die "junge Welt" Redaktion

http://www.jungewelt.de/2006/03-13/057.php?sstr=Milosevic
13.03.2006 / Rat und Tat / Seite 14

Verhindert

Da werden viele Verantwortliche bei NATO, EU, UN usw. aufatmen! Der
zugelassene Tod des früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan
Milosevic verhindert die Aufklärung der wahren Umstände, die zum Krieg
und zur Zerstörung von Jugoslawien führten. Wie oft wurden die
Mikrofone und Fernsehkameras bei Aussagen von Milosevic vor dem
Gericht abgeschaltet? Wie oft wurden Gelder, die die Verteidigung von
Milosevic finanzieren sollten, eingefroren und beschlagnahmt? Die
Wahrheit sollte und mußte verhindert werden!
Sein mehrfacher Wunsch, sich in Moskau ärztlich behandeln zu lassen,
wurde jeweils aus wahrscheinlich humanitären Gründen freundlichst
abgelehnt. Jetzt können sich die Manipulationsmühlen der Medien wieder
kräftig in Bewegung setzen!

Dirk Hosang, Berlin

http://www.jungewelt.de/2006/03-16/022.php?sstr=Milosevic
16.03.2006 / Rat und Tat / Seite 14

Unterlassene Hilfeleistung?
Zu jW vom 13. März: »Das war Mord«

Der ehemalige jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic ist tot. Sind
die Verantwortlichen wegen unterlassener Hilfeleistung, wegen
Totschlags oder gar wegen Mordes zu belangen? Das müßte ein Richter
entscheiden, der nicht dem illegalen selbsternannten Strafgerichtshof
in Den Haag angehört. Aber wahrscheinlich wird eine Autopsie nur den
Befund »Herzversagen« dokumentieren. (...) Bei Milosevic ist sie um so
glaubwürdiger, da – wie alle Welt weiß – der Präsident schwer
herzkrank war. Nun ist aber auch bekannt, daß er in einer Moskauer
Spezialklinik Hilfe hätte finden können. Und damit liegt in der
Weigerung des Gerichts, ihn dorthin zu entlassen, tatsächlich ein
schweres Vergehen vor. Doch wer kann ein selbsternanntes, ohnehin
illegales Gericht überhaupt anklagen? Die Verantwortlichen werden
ungestraft davonkommen und der, der ihnen den Spiegel vorgehalten und
überzeugend in eigener Verteidigung unter schwierigsten Bedingungen
seine Unschuld bewiesen hat, ist tot. Ihren Ankläger sind sie los,
aber nicht ihre Schuld.
Sie werden weitermachen und andere vor Gericht stellen, um ihre eigene
»Unschuld« zu beweisen. Und um die imperialistischen Handlanger und
die wahren Kriegesverbrecher des Jugoslawien-Krieges reinzuwaschen.
Solange dieses »Gericht« im Dienst der US-Administration und deren
Versallen steht, wird sich nichts ändern. (...)

Eva Ruppert, Bad Homburg

http://www.jungewelt.de/2006/03-18/057.php?sstr=Milosevic
18.03.2006 / Rat und Tat / Seite 14

Vor Augen geführt
Zu jW vom 13. März: »Das war Mord

Es war in der Vergangenheit nicht leicht, in der deutschen Presse
etwas über den langwierigen Prozeß gegen Slobodan Milosevic beim
Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu erfahren. Doch Gott sei Dank
gibt es ja die junge Welt, die regelmäßig über diese Farce berichtete.
Ich bin überzeugt davon, daß Milosevic durch seine unglaublich
sachliche, logische und engagierte Selbstverteidigung anhand klarer
Beweise diesem Gericht die Schandtaten der USA, der NATO und allen
voran Deutschlands bis ins letzte Detail vor Augen geführt hat. Doch
genau das war es, was dieses selbsternannte Kriegsverbrechertribunal
nicht mehr hören konnte, so daß man auf diese Weise das seit langem
gefällte Urteil einfach vorzog. Die Verbrechen, die man versuchte,
Milosevic anzuhängen, verbleiben nun in Den Haag.

Kerstin Hellmann, Cottbus

Zu Tode verhandelt!

Die Nachricht kam nicht unerwartet. Mit großer Erleichterung wird sich
das mitleidlose Tribunal zurücklehnen und einen Prozeß für
abgeschlossen erkären, der als »Jahrhundertprozeß« begann und um den
es Monat für Monat immer stiller wurde. Milosevic hat diesem
jammervollen, gelangweilten Gericht eine Verteidigungsrede gehalten,
daß es in Stille versank. Turmhoch distanzierte er die
Provinzstaatsanwältin del Ponte, die bei ihrer Anwesenheit in Berlin
auf die Frage, ob sie die Brücke von Varvarin kenne, antwortete:
»Diese Frage beantworte ich nicht.« Bis jetzt ist in den Medien aus
der Rede von Milosevic nicht ein Wort erschienen. Warum wohl? Weil in
dieser Rede die wahren Schuldigen an der Zerstörung Jugoslawiens
genannt werden. Aber diese Rede wird erscheinen. Nun überschlagen sich
die Medien nach dem gleichen Prinzip: Milosevic – der Totengräber
Jugoslawiens und der Kriegsverbrecher. Wir haben das Gericht in Den
Haag gesehen. Es hat nichts getan, um Milosevic gesundheitlich zu
stabilisieren. (...)
Den Nachruf soll Milosevic selbst mit dem Schluß seiner Rede sprechen:
»In die wahrhafte Geschichtsschreibung von unserer Epoche wird Ihre
Ad-hoc-Justiz als Beispiel für ein monströses Schauspiel zur
Jahrhundertwende eingehen. Meine Herren, Sie wissen gar nicht, was für
ein Privileg es selbst unter den Bedingungen, die Sie mir auferlegt
haben, ist, daß ich Wahrheit und Gerechtigkeit als meine Verbündeten
habe. Ich bin sicher, daß Sie sich das nicht einmal vorstellen können.«

Brigitte und Martin Dressel, Berlin

http://www.jungewelt.de/2006/03-23/025.php?sstr=Milosevic
23.03.2006 / Rat und Tat / Seite 14

Arroganz der Macht

Unabhängig davon, was Milosevic zu verantworten hat oder zu
verantworten hätte, darf das Internationale Tribunal nicht gegen
elementare Grundrechte und international geltende Normen handeln und
erst recht nicht mit Vorsatz, die Gesundheit und das Leben eines
Untersuchungshäftlings gefährden. Auch für den Vorsitzenden Richter
ist der Grundsatz der Unschuldsvermutung bis zum Nachweis der Schuld,
und das unabhängig von der Schwere der Indizien, bindend. Hier wurde
die Fürsorgepflicht aufs kläglichste mißachtet.
Frau Carla del Ponte als Chefanklägerin hat meiner Meinung nach
fahrlässig gehandelt, da sie wußte, daß Slobodan Milosevic an einer
lebensbedrohenden Krankheit litt, die die Ärzte in Scheveningen seit
Jahren, aus welchen Gründen auch immer, nicht in den Griff bekommen
konnten. Der Tod Milosevic hat allen nur das Längstbekannte bestätigt.
Carla del Ponte hat den Tod Milosevic billigend in Kauf genommen, als
sie Milosevic ein Hilfsersuchen für lebenserhaltende Maßnahmen, trotz
der Garantie einer Großmacht, verweigerte. Wer so handelt, muß sich
unter normalen Umständen wegen unterlassener Hilfeleistung mit
Todesfolge bzw. wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Das
internationale Tribunal hat sich als Bewahrer der internationalen
Grundrechte selbst in Frage gestellt, ja disqualifiziert.
Sich über Garantien eines Staates, einer Großmacht, hinwegzusetzen,
wie es das Haager Tribunal getan hat, ist als Arroganz der Macht zu
betrachten, hat ein Menschenleben gekostet und den schon vier Jahre
dauernden Prozeß zunichte gemacht. Die verachtende Haltung des
Tribunals gegenüber den Grundprinzipien der Menschlichkeit, die die
Menschheit zusammenhält, hat die Welt nicht sicherer gemacht, das
Gegenteil ist der Fall.

Dusan Nonkovic, Vorsitzender des Komitees für Menschenrechte der
Jugoslawen, Lübeck


=== 2 ===

http://www.jungewelt.de/2006/03-13/011.php?sstr=Milosevic

13.03.2006 / Titel / Seite 1

»Das war Mord«

Slobodan Milosevic tot in seiner Gefängniszelle aufgefunden. Aus
Moskau und Belgrad schwere Anschuldigungen gegenüber dem Haager Tribunal

Von Jürgen Elsässer

Am Sonnabend vormittag wurde der frühere jugoslawische Präsident
Slobodan Milosevic in seiner Gefängniszelle im niederländischen
Scheveningen tot aufgefunden. Das war »ein bestellter politischer
Mord«, erklärte der russische General Leonid Iwaschow in einer ersten
Stellungnahme. »Man könnte sagen, das Tribunal hat meinen Bruder
getötet«, sagte Borislav Milosevic. Derselben Meinung war auch die
Witwe Mira Markovic: »Das Haager Tribunal hat meinen Mann ermordet.«
Ivica Dacic, Vorsitzender von Milosevics Sozialistischer Partei
Serbiens (SPS), äußerte in Belgrad: »Milosevic starb nicht in Den
Haag, er wurde in Den Haag getötet.« Zwei Belgrader Tageszeitungen,
Glas Javnosti und Press, erschienen am Sonntag mit identischer
Schlagzeile: »Den Haag tötete Milosevic.«

Daß dieser Verdacht nicht aus der Luft gegriffen ist, beweisen
Äußerungen Milosevics vom Vortag seines Todes, über die sein
Rechtsbeistand Zdenko Tomanovic postum berichtete. Er präsentierte am
Sonntag in Den Haag einen sechsseitigen Brief Milosevics an die
russische Botschaft vom 10. März 2006. Darin heiße es, bei einer
Untersuchung im Januar seien in seinem Blut Spuren eines starken
Medikaments gegen Tuberkulose oder Lepra entdeckt worden. Der
Expräsident sei deswegen ernsthaft besorgt gewesen, sagte Tomanovic
weiter. »Sie würden mich gerne vergiften«, habe Milosevic geklagt. Er
habe den Häftling am Freitag nachmittag um 16.30 Uhr das letzte Mal
gesehen.

Am selben Tag hatte auch Milorad Vucelic, ein SPS-Vorständsmitglied,
aus Belgrad mit dem Angeklagten telefoniert. »Er war aufgekratzt und
zufrieden mit dem Vorankommen seiner Verteidigung«, sagte Vucelic.
Beide hätten vereinbart, ihr Telefonat am Sonnabend fortzusetzen.
Vucelics Schlußfolgerung: »Es besteht kein Zweifel, daß dies eine
Frage der Liquidierung Milosevics durch das Haager Gericht ist.«

Demgegenüber sprachen Repräsentanten des Haager Gerichts in ersten
Stellungnahmen von einem natürlichen Tod. Chefanklägerin Carla del
Ponte wollte auch einen Selbstmord nicht ausschließen. Genauen
Aufschluß sollte die Autopsie bringen, die Sonntag mittag begonnen
hatte und zum Redaktionsschluß nicht abgeschlossen war. Bei der
gerichtsmedizinischen Untersuchung des Niederländischen Forensischen
Instituts (NFI) sollte auch ein serbischer Arzt zugegen sein. Mit
dessen Auswahl war Rasim Ljajic betraut, der für die Zusammenarbeit
mit dem Haager Tribunal zuständige Minister der serbischen Regierung.
Ljajic, ein Moslem, gilt als extrem Milosevic-feindlich. Die
Angehörigen des Toten hatten gefordert, die Leiche außerhalb der
Niederlande und in ihrem Beisein zu obduzieren.

Unabhängig von einer möglichen Ermordung trägt das Tribunal zumindest
durch Vernachlässigung der Obhutspflicht für den Inhaftierten die
Schuld an dessen Tod. So hatte sich Milosevics Herzkrankheit seit
Verhandlungsbeginn im Februar 2002 kontinuierlich verschlimmert. Der
Prozeß mußte immer wieder unterbrochen werden. Im November letzten
Jahres sah eine internationale Ärztegruppe das Leben Milosevics bei
Fortsetzung der Verhandlungen in Gefahr. Der Angeklagte stellte
daraufhin einen Antrag, sein Leiden von Spezialisten in Moskau
behandeln zu lassen. Trotz der Zusicherung der russischen Regierung,
Milosevic danach wieder zu überstellen, lehnte das Gericht den Antrag
Ende Februar ab. – Eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht liegt
auch vor, sollte der Tod des Expräsidenten tatsächlich »erst nach
mehreren Stunden« entdeckt worden sein, wie neben serbischen Medien
auch die Online-Ausgabe der Welt meldete.


=== 3 ===

http://www.jungewelt.de/2006/03-15/002.php?sstr=Milosevic

15.03.2006 / Ausland / Seite 3

»Höhepunkt des Verbrechens am serbischen Volk«

Gedenken an Slobodan Milosevic vor der Zentrale der Sozialistischen
Partei in Belgrad
Von Tanja Djurovic, Belgrad

Ein serbischer Dichter schrieb einst: »Ako ti kazu, umro sam – ne
veruj, ja to ne umem« (»Wenn sie euch erzählen, ich sei gestorben –
glaubt ihnen nicht, denn ich weiß gar nicht, wie das geht«). In dieser
Weise hat Serbien über Slobo gedacht. Sowohl jene, die gut, als auch
jene, die schlecht über ihn dachten. Dazwischen gab es nichts.

Slobodan Milosevic war ein Mann des Krieges, er kämpfte für seine
Sache, wie es schon viele vor ihm taten. Es mag ein verlorener Krieg
gewesen sein, und viele wollten uns glauben machen, daß es auch eine
verlorene Sache war. Aber der Sturz von Milosevic war die Folge
dessen, daß die Welt im voraus entschieden hatte, wer im
Jugoslawien-Konflikt die »Guten« und wer die »Bösen« waren.

Zum Tod Milosevics erklärte Nebojsa Plagic, ein bekannter Rechtsanwalt
aus Novi Sad: »Als Zynist könnte man sagen, daß Serbien besser dran
ist ohne Milosevic, und daß Milosevic besser dran ist mit diesem
würdevollen Abgang.« Immerhin habe er sich nun zu seinen lebenslangen
Widersachern Alija Izetbegovic aus Bosnien und Franjo Tudjman aus
Kroatien gesellt und die Geschichte der Balkan-Kriege damit
abgeschlossen. »Aber es bleibt eine zentrale Frage«, so Plagic weiter,
»Warum erklärte man nur ihn verantwortlich für Verbrechen, die von so
vielen begangen wurden?«

Tatsächlich scheint es den Anklägern gut zu passen, daß Milosevic in
seiner Gefängniszelle starb. Im Zeitraum von fünf Jahren war das
Haager Tribunal schließlich nicht in der Lage, der von Milosevic
geführten serbischen Armee den Völkermord nachzuweisen, der ihr
vorgeworfen wurde.

So sagt dann auch Zivadin Jovanovic, der frühere jugoslawische
Außenminister: »Das Haager Tribunal ist allein schuldig am Tod von
Präsident Slobodan Milosevic.« Nach seinem Tod und dem vieler anderer
serbischer Gefangener müsse der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
die Arbeit des Hager Gerichtshofs wie auch seine grundsätzliche
Legitimität untersuchen.

Vladimir Krsljanin von der Slobodan-Gesellschaft sprach das aus, was
in Serbien viele denken: »Es ist ein kaltblütiger Mord verübt worden,
aus niederen Beweggründen und vorsätzlich.« Der ungeklärte Tod von
Slobodan Milosevic markiere den Höhepunkt des Verbrechens am
serbischen Volk.

Zum Gedenken brennen seit Samstag nacht vor dem Parteibüro der
Sozialistischen Partei Grablichter, Blumen wurden niedergelegt. »Mag
die Erde, die ihn bedecken wird, leicht sein«, sagte der 90jährige
Nedjo Petrovic unter Tränen. »Milosevic starb als Held und Märtyrer«,
sagt der alte Mann, »und für mich ist es ein ganz persönlicher
Verlust. Nicht wegen seiner Person, sondern wegen allem, für das er
stand. Und deswegen habe ich die Kerze nicht nur für ihn angezündet,
sondern für das Land, in dem ich und viele andere früher lebten – das
Jugoslawien, das in unser aller Herzen war und für das wir gekämpft
haben, das Jugoslawien, dem der Prozeß gemacht und das ans Kreuz
geschlagen wurde, das Jugoslawien, das wir liebten und bis in den Tod
lieben werden.«

Übersetzung: Jürgen Heiser


=== 4 ===

http://www.jungewelt.de/2006/03-16/009.php?sstr=Milosevic

16.03.2006 / Interview / Seite 2

»Haager Tribunal muß geschlossen werden«

Russische Duma gibt internationalem Strafgerichtshof die Schuld am Tod
Slobodan Milosevics. Untersuchungskommission gefordert. Ein Gespräch
mit Natalia Narotchnitskaya

* Natalia Narotchnitskaya ist Duma-Abgeordnete der sozialpatriotischen
Rodina-Fraktion und Vorsitzende im Duma-Ausschuß für Menschenrechtspraxis

F: Die russische Duma hat am Mittwoch über den Tod des ehemaligen
jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic debattiert. Was war das
Ergebnis?

Das Ergebnis war eine einstimmige Resolution. Unser Parlament fordert
eine internationale unabhängige Kommission zur Untersuchung der
Ursachen des Todes des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten und weist
die Schuld für diese Trägödie dem Haager Tribunal zu. Außerdem, und
auch das wurde einstimmig verabschiedet, fordern wir die zügige
Abwicklung der in Den Haag noch anhängigen Verfahren und dann die
Schließung des Tribunals. Weitere Fälle sollen nicht mehr aufgenommen
werden.

F: Das heißt: kein Prozeß gegen noch gesuchte Personen wie Radovan
Karadzic und Ratko Mladic, den ehemaligen Präsidenten und ehemaligen
Oberbefehlshaber der bosnischen Serben?

Die Resolution der Duma ist eindeutig: Abschluß der laufenden
Verfahren, und dann Ende.

F: Diese Woche berichtete die Financial Times mit Bezug auf eine
anonyme Quelle, Rußland wolle sich einer Abspaltung des Kosovo von
Serbien nicht länger widersetzen. Das widerspricht dem starken
proserbischen Auftreten von Außenminister Sergej Lawrow, der ebenfalls
recht unverblümt dem Tribunal die Schuld am Tod Milosevics gegeben und
die Objektivität der Autopsie angezweifelt hat. Was gilt denn nun:
Neue panslawische Freundschaft oder neuer russischer Verrat?

Der Artikel der Financial Times paßt auch nicht zu der offiziellen
Position in der Kosovo-Frage, die der Kreml seit Ende Januar vertritt.
Genauer gesagt: Die Position ist nicht neu, aber sie wurde von
Präsident Putin Ende Januar mit Härte vorgetragen, und das kurz vor
Beginn der sogenannten Endstatusgespräche für das Kosovo – das hat
mich schon überrascht. Putin stellte ein Junktim her zwischen dem
Balkan und dem Kaukasus: Wenn das Kosovo ein unabhängiger Staat werde,
warum dann nicht auch Südossetien und Abchasien? So wie die Mehrheit
der Kosovo-Bevölkerung nicht mehr in einem gemeinsamen Staat mit
Serbien bleiben will, so will die Mehrheit in Südossetien und
Abchasien nicht mehr bei Georgien bleiben. Im Grunde ist der Fall hier
noch klarer: Georgien hat sich Anfang der neunziger Jahre einseitig
von der Sowjetunion abgespalten, ohne in den autonomen Gebieten mit
russischer oder russophiler Bevölkerung für diesen Schritt zu werben
oder darüber abstimmen zu lassen. Die Leute dort sagen den Georgiern:
Daß ihr die Verbindung mit Moskau durchtrennt habt, schön und gut, das
dürft ihr tun – aber warum müssen wir das auch tun? Das heißt: Nicht
Südosseten und Abchasen sind die Separatisten, wie es im Westen
dargestellt wird, sondern die Georgier.

F: Wird Putin diese Härte in den Kosovo-Endstatusgesprächen, die noch
bis Jahresende dauern werden, durchhalten?

Das weiß ich nicht. In den letzten 15 Jahren hat sich unsere
Außenpolitik für Jugoslawien beziehungsweise Serbien leider als nicht
sehr zuverlässig erwiesen. Ich bin einerseits skeptisch, denn die
Ankündigung Putins kam wie aus heiterem Himmel – würde es sich
wirklich um eine neue Taktik handeln, hätte der Schwenk eigentlich in
den Monaten zuvor vorbereitet werden müssen. Andererseits stimmt mich
optimistisch, daß Putins Argumente in der Folge von unseren
Außenpolitikern und Diplomaten und auch von Teilen der Presse
übernommen wurden. Offensichtlich läuft eine Art Ausrichtungsprozeß
innerhalb der politischen Klasse oder jedenfalls der mit der
Außenpolitik befaßten Beamten und der Intelligenzija.

Interview: Jürgen Elsässer


=== 5 ===

http://www.jungewelt.de/2006/03-24/005.php?sstr=Milosevic

24.03.2006 / Thema / Seite 10

Neues zum Kampf um Racak

Mit dem Tod von Slobodan Milosevic ging der Haager Prozeß vorzeitig zu
Ende. Die dort ermittelten Fakten sollten jetzt die Historiker
beschäftigen.

Von Bo Adam

Die meisten Kommentare zum Tod von Slobodan Milosevic laufen auf ein
paar Glaubenssätze hinaus. Erstens: Es sei zutiefst bedauerlich, daß
das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag kein Urteil mehr über den
Verstorbenen fällen kann. Zweitens: „Die Geschichte" werde dieses
Urteil schon sprechen. Drittens: Dieses Urteil könne nur „schuldig in
allen Punkten" heißen. Denn viertens: Das Urteil wurde in Wirklichkeit
schon längst gesprochen. Von den ehrenwerten Richtern am Haager
Tribunal erwarte man lediglich noch eine Handlangerleistung: die
Exekution des allgemeinen Vor-Urteils.

Wer sich hingegen mit dem Gerichtsverfahren etwas intensiver
beschäftigt hat, kann durchaus zu anderen Schlüssen gelangen. Über
drei Jahre dauerte die Beweisaufnahme seit der Eröffnung des
Verfahrens gegen Milosevic am 2. Dezember 2002. Fast 500
Verhandlungstage produzierten über eine Million Blatt Dokumente.
Unabhängig von der Frage, wie das Haager Tribunal generell zu
beurteilen ist: In den vielen Aktenordnern stecken auch Wahrheiten.

Wenn „die Geschichte" also irgendwann tatsächlich ein sachgerechtes
Urteil fällen soll, müssen Historiker und Journalisten Gelegenheit
erhalten, diese Materialfülle zu analysieren. Das gilt vor allem für
die vielen Schriftstücke, die derzeit als geheim der Öffentlichkeit
vorenthalten werden. Aber auch die bereits öffentlichen Protokolle
enthalten Stoff, um bei unvoreingenommener Sichtung ein
differenzierteres Bild der Ereignisse auf dem Balkan zu zeichnen.

Del Pontes Erzählungen

Ein Schwerpunkt des Verfahrens gegen Slobodan Milosevic war die
Tragödie von Racak. Das „Massaker", wie es offiziell genannt wurde,
spielte eine entscheidende Rolle bei der Vorbereitung des Krieges der
NATO gegen Jugoslawien, eines Krieges, der das Völkerrecht wie auch
die Statuten der NATO (und in Deutschland das Grundgesetz) verletzte.
Der Zwischenfall löste nicht den Krieg aus. Aber die von Politikern
und Medien präsentierte Darstellung der Ereignisse trug wesentlich
dazu bei, den Widerstand der Friedensbewegung gegen den Überfall zu
lähmen.

Sieben Jahre später ist nüchtern festzuhalten: Im Verlauf des
Verfahrens in Den Haag ist es der Anklage nicht gelungen, irgendeine
direkte Verbindung zwischen Slobodan Milosevic und dem Tod der etwa 45
Albaner in Racak nachzuweisen. Und auch die Behauptungen der Ankläger,
was tatsächlich in dem kosovarischen Dorf am 15. Januar 1999 geschah,
wurden mehr als erschüttert.

Ginge es nach Chefanklägerin Carla del Ponte wäre der Fall Racak indes
recht schlicht zu beurteilen: Als Kosovo-Albanische Aufständische aus
der Gegend um Stimlje einige serbische Polizisten umgebracht hatten,
rächten sich die Serben brutal an der unschuldigen Bevölkerung dieses
Dorfes, indem sie 45 Bewohner, alles friedfertige Zivilisten, töteten.
Wörtlich heißt es in der Anklageschrift: „Am 15. Januar 1999 wurde das
Dorf Racak (Gemeinde Stimlje/Shtime) in den frühen Morgenstunden durch
Sicherheitskräfte Jugoslawiens und Serbiens angegriffen. Nach einer
Bombardierung durch die Jugoslawische Armee betrat serbische Polizei
später am Morgen das Dorf und begann, die Häuser zu durchsuchen. Auf
Dorfbewohner, die versuchten zu fliehen, wurde im ganzen Dorf
geschossen. Eine Gruppe von 25 Männern versuchte, sich in einem
Gebäude zu verstecken, doch sie wurde entdeckt durch die serbische
Polizei. Sie wurden geschlagen und wurden dann zu einem nahen Hügel
gebracht, wo Polizisten sie erschossen." Die Haager Anklageschrift
kennzeichnet dies als „Mord an Kosovo-albanischen Zivilisten".

Diese Darstellung entspricht den Erklärungen des Amerikaners William
Walker, des damaligen Leiters der OSZE-Mission im Kosovo. Am Tag nach
der Tragödie in Racak besuchte er mit großem Journalistentross das
Dorf. Sein Urteil stand sofort fest: Er habe zunächst die Leichen von
mehr als 20, meist älteren Männern gesehen, sagte er, die „offenkundig
dort hingerichtet wurden, wo sie lagen". Ein am nächsten Tag unter
Walkers Regie fertig gestellter „Special Report" der OSZE-Mission in
Kosovo faßte zusammen: Man habe Beweise gefunden für „willkürliche
Verhaftungen, Tötungen und Verstümmelungen von unbewaffneten
Zivilisten". Im Detail listet der Report auf: 23 erwachsene Männer
verschiedenen Alters in einem Hohlweg oberhalb Racaks, „viele aus
extremer Nahdistanz erschossen", ferner vier erwachsene Männer, die
anscheinend auf der Flucht erschossen wurden sowie insgesamt 18
Leichen im Dorf selbst.

Aber handelte es sich tatsächlich um ein verschlafenes friedfertiges
Bergdorf? Waren die Toten tatsächlich unbewaffnete Zivilisten? Gab es
die behaupteten Verstümmelungen? Handelte es sich tatsächlich um
Hinrichtungen aus extremer Nahdistanz?

Ausgerechnet ein Vertreter der UCK, der bewaffneten Kosovo-Albanischen
Unabhängigkeitsbewegung, hat im Zeugenstand erheblich dazu
beigetragen, das primitive Schwarz-Weiß-Bild der Anklage zu
korrigieren: Shukri Buja war zur Zeit der Tragödie von Racak
Regionalchef der UCK in der Gegend. Als Student hatte der
Kosovo-Albaner 1989 an nationalistischen Unruhen in der Hauptstadt des
Kosovo, Pristina, teilgenommen. Dafür war er mit mehreren Jahren
Gefängnis bestraft worden. Nach seiner Haftentlassung zog Buja
zunächst in die Schweiz. Dann kehrte er mit 30 anderen Entschlossenen,
unter ihnen der später berüchtigt gewordene UCK-Chef Hashim Thaci,
heimlich über die albanische Grenze in das Kosovo zurück. Erklärtes
Ziel der Gruppe war, den bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit
aufzunehmen. Innerhalb kurzer Zeit unterstanden dem 33jährigen Shukri
Buja in der unübersichtlichen Bergregion um Racak mindestens 1.000
Kämpfer.

An einem Tag im Juni 1998 rief die UCK die Bewohner des Dorfes zu
einem Meeting in der Moschee zusammen. Die Freischärler teilten mit,
daß sie nunmehr die politischen Herren von Racak seien. Darüber
berichteten sowohl Dorfbewohner als auch Shukri Buja. In einem kleinen
Tal unmittelbar hinter dem Dorfzentrum errichteten die Aufständischen
ihre lokale Garnision, in der Sprache der UCK ein Sub-Hauptquartier.
Es bestand aus mehreren Höfen und Gebäuden, die den Kämpfern von
Dorfbewohnern überlassen worden waren. Laut Shukri Buja waren etwa 50
seiner Leute in dieser Basis stationiert. Hilfskräfte aus dem Dorf
versorgten sie mit Lebensmitteln und anderen Gütern. Eine
„Zivilverteidigung" von Racak wurde rekrutiert. Zu ihren Aufgaben
gehörte es, das Dorf mit einem Netz von Schützengräben, Unterständen
und Beobachtungspunkten zu überziehen. Oberhalb des so befestigten
Dorfes wurde in einem Hang ein Bunker für schwere Waffen errichtet.

Racak war, je nach Sichtwinkel, ein Sperrriegel oder ein Einfallstor
in das bergige Hinterland der Aufständischen. Auch der Verbindungsweg
zum heimlichen Generalstab der UCK für ganz Kosovo verlief hier
entlang. „Das ganze Leben unserer Operationszone hing von diesem Weg
ab", erläuterte Shukri Buja freimütig dem Gericht in Den Haag.

Das Treiben der Freischärler blieb den serbischen Sicherheitskräften
nicht verborgen. Durch Informanten unter den Albanern wußten sie, wie
Vertreter der serbischen Polizei vor dem Gericht darstellten, vom
Meeting in der Moschee. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Im August 1998 griffen sie (wiederum nach Aussage der als Zeugen
gerufenen Dorfbewohner) Racak an. Offenkundig hatten die UCK-Helfer
aber ihrerseits ebenfalls einen Tipp bekommen und waren abgetaucht.
Niemand wurde verhaftet, niemand verletzt, niemand getötet. Aber 64
Häuser wurden - nach Angaben der Freischärler - beschädigt oder zerstört.

Für die Anklage war bereits dieser Zwischenfall ein Beispiel brutalen
serbischen Terrors gegen friedfertige Kosovaren. Vor Gericht hat sich
niemand die Mühe gemacht zu prüfen, ob die betroffenen Häuser nicht
etwa UCK-Unterstützern gehörten. Nach Darstellung Milosevics hatte es
diese Aktion seiner Sicherheitskräfte nie gegeben. Die Richter
stellten keine eigenen Untersuchungen an.

Seit dem Sommer 1998 war das von der UCK beherrschte Dorf Racak mit
anderen Worten potentielles Bürgerkriegsgebiet. Viele Einwohner der
einst an die 3000 Menschen zählenden Gemeinde zogen sicherheitshalber
zu Verwandten in Nachbargemeinden. Einige blieben, um das Vieh zu
versorgen – und das UCK-Lager. Im Januar 1999 spitzte sich die
Situation wieder zu. Seit Tagen galt die höchste Alarmstufe im Dorf.
Hatten doch die albanischen Kämpfer in den Wochen zuvor insgesamt ein
halbes Dutzend serbische Polizisten umgebracht. So etwas läßt sich
keine Polizei der Welt bieten. Man konnte eine heftige Reaktion
erwarten. Am 13. Januar forderten die Freischärler, so Shukri Buja,
die verbliebenen Zivilisten auf, das Weite zu suchen. Nur noch einige
junge Männer und ein paar Ältere verharrten in Racak.

Am frühen Morgen des 15. umzingelten die serbischen Sicherheitskräfte
das Dorf. Eine Spezialtruppe schaltete die Wachen der UCK aus. Im
Morgengrauen begann das Gefecht. Die Aufständischen setzten sich mit
Gewehren, Kalaschnikows und Granatwerfern zur Wehr. Über den ganzen
Tag tobten die Kämpfe.

Vertreter der OSZE beobachteten seit dem frühen Morgen von einem Hügel
aus das Geschehen. Auch für die die westlichen Beobachter kam der
Kampf nicht überraschend. Das bestätigte vor Gericht ein britischer
Geheimdienstmitarbeiter, der über gute Kontakte zur UCK verfügte. Die
Serben gewannen zunächst die Oberhand, die Rebellen mußten sich
vorübergehend zurückziehen. Sie gruppierten sich um und erhielten
Verstärkung von anderen Einheiten. Sogar Spezialtruppen des
Generalkommandos der UCK wurden herangeführt. Am Mittag griffen sie
wieder an, wollten die verlorenen Positionen in den Hügeln oberhalb
von Racak zurückerobern. Unter ihrem Beschuß durchkämmten serbische
Polizisten Straße für Straße, Haus für Haus in dem weitgehend leeren
Dorf und schossen vermutlich auf alles, was ihnen in dieser Situation
verdächtig erschien. So können auch Zivilisten ums Leben gekommen sein.

Nach 16 Uhr verhinderte die Natur weitere Kämpfe: Im Januar wird es
schnell dunkel in den Dörfern des Kosovo. Die Polizei zog sich zurück,
die UCK rückte vor. Am Abend war Racak wieder ihr Herrschaftsgebiet.
Späher der OSZE besichtigten das Dorf. Sie trafen sich mit
Dorfbewohnern - und mit der UCK. Die Leiter der Aufständischen zogen
dabei eine vorläufige Bilanz der Kämpfe und der eigenen Verluste. Die
OSZE-Kontaktleute verabredeten sich mit den Repräsentanten der UCK für
den nächsten frühen Morgen, um gemeinsam den Kampfplatz zu
inspizieren. Das Cover-Up begann.

Über diese Zusammenarbeit der - zumeist amerikanischen oder britischen
- Mitarbeiter der OSZE mit den Sezessionisten erfuhr die
Öffentlichkeit in den Tagen bis zum Kriegsbeginn nichts. Kein Wort
findet sich darüber in den damaligen Berichten der OSZE und Statements
der internationalen Politik. Das Bild vom Massaker an Zivilisten
sollte offenkundig nicht gestört werden: Die UCK informierte die OSZE
über ihre toten Kämpfer, dokumentieren die Prozeßakten. Doch die OSZE
verschwieg das. Die UCK informierte, daß sie Tote vom Kampffeld
entfernt hatte. Die OSZE log dies um und behauptete, es ginge um
Verwandte Zivilisten aus einem Nachbardorf – so im erwähnten „Special
Report" der OSZE zu lesen. Die Gefechte zwischen Serben und Kosovaren,
die mit Unterbrechungen noch einige Tage dauerten und mit schweren
serbischen Verlusten und der Zerstörung des regionalen Hauptquartiers
der UCK endeten, wurde in der westlichen Öffentlichkeit fast
vollständig ausgeblendet.

Crime Location 2

Denn die Schlacht um Racak hatte am 16. Januar 1999 ihre
internationale Dimension erreicht. Diese wurde von William Walker und
seiner politischen Ziehmutter, der Washingtoner Außenministerin
Madeleine Albright, dominiert. Noch von Racak aus rief William Walker
seine Dienstherren in den USA und bei der NATO an. Walkers
Stellvertreter, der Brite John Drewienkiewicz, informierte die
Regierung in London. Obwohl es Wochenende war, reagierten die
politischen Zentren des Westens, als hätten sie auf diese Anrufe nur
gewartet. In Brüssel wurde sofort eine Sondersitzung der
NATO-Botschafter einberufen. Madeleine Albright fühlte sich
„galvanisiert" und drängte auf den Krieg gegen Jugoslawien. Auch die
damalige Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals, Louise Arbour,
wußte blind, was zu tun sei: Noch am Sonnabend meldete sie ihre
Abreise ins Kosovo an.

William Walker ist inzwischen aus dem diplomatischen Dienst der USA
ausgeschieden. Dem Tribunal in Den Haag teilte er mit, daß er nunmehr
als Direktor einer „international agierenden Energiegesellschaft"
tätig sei. Im Zeugenstand blieb er – nicht sonderlich überraschend -
unbeirrt bei seinen Aussagen von 1999. Er gab immerhin zu, daß er von
der UCK wußte und auch von den Gefechten. Diese hätten aber mit der
„Exekution von 45 Zivilisten" nichts zu tun, beharrte er. So
argumentierten auch die Anklagevertreter in den Haag: Die nicht mehr
zu leugnende Schlacht sei eine Sache und die toten Zivilisten eine
ganz andere. Eine unhaltbare Konstruktion, wie sich nachweisen läßt:

Die Toten von Racak wurden an verschiedenen Stellen des Ortes
gefunden. Insgesamt identifizierten die Kriminologen des Tribunals
Haag fünf „Crime Locations". Als Ankläger Geoffrey Nice seine Zeugen
aus Racak für den Prozeß auswählte, sollten sie – wie er sagte - in
der Lage sein, alle „Crime Locations" zu beschreiben. Doch für „Crime
Location 2", wo mehrere Menschen unter eigentümlichen Umständen
starben, benannte Nice dann doch keinen Zeugen. Ein Zufall? Wohl kaum.
Denn „Crime Location 2" ist identisch mit dem Subhauptquartier der UCK
in Racak.

Die sechs Häuser liegen in einem engen Tal, ein paar hundert Meter vom
Dorfkern entfernt. Eigentlich gehörten die Häuser der Familie Mustafa,
aber sie hatte sie den Bewaffneten überlassen. Für Zivilisten war die
UCK-Basis eine verbotene Zone – so berichteten die Dorfbewohner vor
Gericht übereinstimmend. Eine Wache habe dafür gesorgt, daß niemand
hineingelange. Eine Aussage mit interessanten Konsequenzen.

Denn, wie gesagt, am 16. Januar fanden die OSZE-Mitarbeiter und die
Medien dort sechs Erschossene vor, alle in Zivilkleidung. Ihre Namen
stehen auf der Liste der Ankläger über die getöteten Zivilisten von
Racak. Zivilisten? Was machten Zivilisten ausgerechnet am 15. Januar
1999 in einem abgeschirmten militärischen Komplex?

Das Rätsel läßt sich einfach auflösen. Einer der gefundenen Toten war
der 64jährige Ahmet Mustafa – aus der Familie Mustafa, die die UCK
beherbergte. Mit ihm starb sein Bruder Mehmet – als ausgewiesener
Soldat der UCK. Ein weiterer Freischärler aus der Familie entkam mit
anderen verwundeten Kämpfern. Während die UCK nach dem Gefecht den
toten „Zivilisten" Ahmet Mustafa liegen ließ, zog sie es vor, den
uniformierten Mehmet Mustafa zu entfernen, bevor die Medien am
Sonnabend an die „Crime Location 2" geführt wurden.

Mehmet Mustafa war nicht der Einzige UCK-Soldat, der am 15. Januar in
der „Crime Location 2" starb. Laut UCK waren es neun Kämpfer.
Namentlich bekannt sind Sadik Mujota und dessen Tochter Hanumshahe
Mujota, ferner Ali Beqa und Nazim Kokollari. Und schließlich Kadri
Syla, der auf einem Hang oberhalb des Gebäudekomplexes getötet wurde.
Die Genannten ließ die UCK verschwinden. Drei weitere Mitglieder der
Familie Syla, die Brüder Arif, Sabri und Haki Syla, Männer zwischen 50
und 60 Jahren und in Zivilkleidung ließ man hingegen auf dem Hang
liegen, den sie vermutlich mit UCK-Kämpfer Kadri Syla bestiegen
hatten. Natürlich tauchen auch sie – außer Kadri - in der Liste der
Anklage über getötete friedfertige Zivilisten auf. Bedauerlicherweise
interessierten sich die Richter in Den Haag wenig für „Crime Location 2".

Die Toten im Graben

Im Mittelpunkt des Falles Racak steht die Frage, was in dem so
genannten Hohlweg oberhalb des Dorfkerns passiert war. Hier waren am
morgen des 16. Januar insgesamt 23 Tote gefunden worden, 15 von ihnen
eng neben- und übereinander liegend - schreckliche Bilder, die um die
Welt gingen.

Wer sich diese Bilder genauer anschaut, stellt fest, daß es sich bei
den Toten weitgehend um jüngere Männer handelte. Dennoch behaupteten
William Walker und seine Leute, zumeist ältere, angeblich wehrunfähige
Männer gesehen zu haben. So wurde es auch in den Medien verbreitet und
von den Politikern wiederholt. Eine weitere kleine Lüge, die die
Geschichte vom Massaker an wehrlosen Dorfbewohnern stützen sollte. In
Wahrheit waren 19 der 23 Männer jünger als 50 Jahre. Zehn waren sogar
jünger als 30 Jahre. Eine simple Analyse der Geburts- und Sterbedaten
belegt das. Ferner besagt das Alter der Kämpfer in einem Bürgerkrieg
nicht viel. Unter den ausgewiesenen UCK-Kämpfern, die in Racak
starben, sind mehrere über sechzigjährige Männer.

Wie sind die Toten aber in den Hohlweg gelangt? Laut Anklage war es,
wir erinnern uns, so: Eine Gruppe von ungefähr 25 Männern versuchte,
sich in einem Gebäude zu verstecken, wurde jedoch von Serbischen
Polizisten entdeckt. Sie wurden geschlagen („beaten") und danach zu
einem nahe gelegenen Hügel hingebracht („removed"), wo die Polizisten
sie erschossen („shot and killed").

Die erste wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, warum sich
überhaupt 25, in der Mehrheit jüngere Männer aus verschiedenen
Familien ausgerechnet an diesem 15. Januar im Zentrum des Dorfes
zusammenfanden. Darauf hat der Prozeß keine Antwort gegeben, weil
niemand danach fragte. Im Angesicht eines Angriffs der serbischen
Kräfte gegen die im Dorf stationierte UCK war eine solche Ansammlung
von Leuten im kampffähigen Alter an einem Ort die abwegigste Idee, die
jemand haben konnte.

Die 25 liefen zudem nicht irgendwo zusammen. Sie versammelten sich im
Gehöft von Sadik Osmani. Warum gerade hier? Das war lange Zeit nicht
klar. Bis vor kurzem ein Buch auftauchte, in dem die Namen der im
Kampf gegen die Serben gefallenen Helden der UCK verewigt sind. In
diesem Buch ehrt die Organisation auf Seite 108 ihren Soldaten Sadik
Osmani, gestorben 1999 in Racak. Neben ihm werden zwei weitere Männer,
die in dem Hohlweg starben, als reguläre UCK-Soldaten in dem Buch genannt.

Zurück zur Anklageschrift. Nach dessen Text entdeckten serbische
Polizisten das angebliche Versteck. Sie holten die Männer heraus und
schlugen sie brutal mit Hölzern, die als Heizmaterial herumlagen.
Tatsächlich? Brutale Schläge mit Ästen müßten Wunden oder zumindest
blutunterlaufene Stellen am Körper hinterlassen. Kurze Zeit später
waren die meisten der angeblich Zusammengeschlagenen tot. Ihr
Blutkreislauf war gestoppt. Wunden heilten nicht mehr, Unterblutungen
verliefen nicht mehr. Man hätte Spuren dieser Schläge bei der
Obduktion finden müssen. Aber die versammelten Mediziner aus Finnland,
Belorussland und Jugoslawien fanden nichts dergleichen. In ihren
Protokollen vermerkten sie ausdrücklich, daß es keinerlei Zeichen von
solchen Verletzungen gegeben habe.

Die 25 wurden also nicht geschlagen, aber was passierte dann? Laut
Anklageschrift wurden sie zu einem nahe gelegenen Hügel „hingebracht".
Diese Behauptung wird jedoch nicht einmal von den Zeugen der Anklage
gestützt. Die Männer, die dazu vor Gericht aussagten, erklärten zwar
übereinstimmend, daß die serbischen Polizisten (die sie angeblich
vorher geschlagen hatten) die 25 aufforderten, den Hügel hinter dem
Haus von Sadik Osmani hinaufzusteigen, was dann auch geschehen sei.
Doch – so bestätigen die Zeugen aus dem Dorf - Kein Serbe begleitete
oder bewachte die 25, die angeblich exekutiert werden sollten.

Die Schußkanäle

Ein Foto, das die Anklagevertreter gelegentlich im Prozeß nutzten,
zeigt den Weg, den die 25 nach Aussagen der Zeugen nahmen. Sie gingen
demnach nicht den geraden Weg von Sadik Osmanis Hof zum Hügel – über
eine Wiese -, sondern einen kleinen Umweg, wo sie unter dem
Sichtschutz von Büschen und Bäumen nach oben schleichen konnten. Vor
wem versteckten sie sich? Wie man es auch wendet und dreht, die
Geschichte von dem Todesmarsch kann so nicht stimmen.

Was geschah dann aber oben auf dem Hügel, in dem berüchtigten Hohlweg?
In der Anklageschrift heißt es dazu lediglich, daß serbische
Polizisten die Mitglieder der Gruppe erschossen. Wie das geschah, wird
nicht näher erläutert. Es gibt Darstellungen in den Medien. Die
meisten lassen sich auf die Behauptungen der OSZE-Vertreter und
insbesondere die von ihrem Chef William Walker zurückführen. Im Kern
besagen diese, daß die Toten „erschossen wurden, wo sie lagen"; daß
sie unbewaffnet waren; daß sie aus kurzer Entfernung erschossen
wurden; daß „etliche verstümmelt" worden sind. Von diesen Behauptungen
sind zwei nachweislich falsch und zwei unbewiesen. Erstens: Die
Gerichtsmediziner aus Finnland, Serbien und Weißrussland fanden bei
der Obduktion der Leichen keine Verstümmelungen. Zweitens: Die
Gerichtsmediziner verneinten, daß die Schüsse aus kurzer Entfernung
abgegeben worden waren; Drittens: Daß die Toten unbewaffnet waren,
wird durch keinerlei objektive Beweismittel erhärtet. Das finnische
Obduktionsteam um Frau Helena Ranta unterließ es, eine Untersuchung
der Toten auf Schmauchspuren an den Händen vorzunehmen. Noch am 15.
Januar präsentierten die serbischen Sicherheitskräfte Waffen, die sie
den Aufständischen abgenommen hatten. Sie versäumten es aber zu
dokumentieren, wo in Racak diese Waffen erobert worden waren.

Bleibt viertens die Behauptung, daß die Toten dort erschossen worden
waren, wo sie gefunden wurden. Als William Walker am Nachmittag des
16. Januar 1999 diese Behauptung aufstellte, konnte er natürlich noch
gar keine Beweise haben. Noch schlimmer: Er hatte gerade das Seinige
dafür getan, daß etwaige Beweise für oder gegen eine Massakertheorie
weitgehend unbrauchbar gemacht wurden. Statt den Fundort abzusperren
und forensische Spezialisten herbeizurufen organisierte er einen
medialen Massenauflauf in dem Hohlweg. Seitdem wabert im Fall Racak
eine Diskussion um vorhandene oder nicht vorhandene Blutspuren auf dem
Boden des Hohlwegs und um herumliegende oder eben nicht herumliegende
Munition. Vor Gericht wollten verschiedene Zeugen Verschiedenes
gesehen haben. Auch die zur Verfügung stehenden Fotos geben keinen
wirklichen Aufschluß. Bei einigen Toten entdeckten die finnischen,
serbischen und belorussischen Gerichtsmediziner immerhin Schleifspuren
auf den Rücken. Einige Körper nahmen in der Totenstarre eigentümliche
Haltungen ein, die darauf hindeuten könnten, daß sie ganz woanders
getötet wurden. Einige waren in einem fortgeschritteneren
Verwesungszustand als andere. Neben einem Toten wurde ein Ausweis
gefunden, der auf einen Namen lautete, der auf keiner Liste der Toten
je wieder auftaucht. Diese Details wurden im Tribunal leider nicht
thematisiert.

Gehen wir einmal davon aus, daß die meisten der Toten vielleicht
tatsächlich in dem Hohlweg erschossen wurden. Aber wie, unter welchen
Umständen?

Für das Gericht untersuchte die finnische Gerichtsmedizinerin Helena
Ranta mit einem Team von Spezialisten den Tatort. Bei ihren „Field
Investigations" - ein Jahr nach dem Zwischenfall von Racak – vermaßen
die Finnen das Gelände. Ferner sammelten sie Projektile und
Patronenhülsen ein, die in dem Hohlweg und der unmittelbaren Umgebung
übrig geblieben (oder auch in der Zwischenzeit platziert worden)
waren. Den Tathergang hat das Team nicht rekonstruiert. Bei ihrem
Auftritt als Zeugin vor dem Tribunal blieb Frau Ranta äußerst
vorsichtig und doppeldeutig. Auf mehrfaches Drängen des
Anklagevertreters bestätigte sie schließlich, daß die Toten ihrer
Meinung nach tatsächlich im Hohlweg erschossen worden waren.

Der angebliche Beweis: Dort wo die Leichen gelegen hatten, fand Frau
Rantas Team (ein Jahr später) je ein Projektil im Boden. Nach diesem
Szenarium hätten die serbischen Polizisten wie Adler über den auf dem
Boden liegenden Kosovaren schweben müssen, als diese erschossen
wurden. Laut Theorie der Anklage standen die Polizisten aber auf einem
nur leicht erhöhten Plateau einige Meter neben dem Hohlweg. Von dort
hätten sie die gegenüberliegende Böschung des Hohlwegs getroffen, aber
nicht den Boden. Frau Ranta verzichtete darauf, vor Gericht diese
wichtige Ungereimtheit auszuräumen. Sie sei keine Ballistikerin,
erklärte die Finnin.

Ein weiterer entscheidender Punkt für einen Gerichtsmediziner –
vielleicht der entscheidende Punkt überhaupt – blieb bei der
Zeugenvernehmung von Frau Ranta gleich ganz links liegen: Die Prüfung,
ob die Schußwunden der Toten im Hohlweg mit dem angenommenen Szenarium
einer Exekution übereinstimmen könnten. Es dürfte kaum noch
überraschen, daß es keine derartige Übereinstimmung gibt. Noch mehr:
Ein Vergleich der Schußwunden der Toten bringt dafür eine ganz andere,
äußerst bemerkenswerte Gleichförmigkeit zu Tage. Die Mehrzahl der
Toten im Hohlweg wurde unter anderem durch Schüsse getroffen, die
praktisch parallel zum Körper verliefen – von der Stirn oder die
Schulter durch Brust oder Rücken in den Unterleib. Erfahrene
Gerichtsmediziner wissen: Ein solcher Einschußwinkel ist genau
genommen nur in einer Lage möglich – wenn man sich auf dem Boden
liegend eine Schießerei mit ebenfalls liegenden Gegnern liefert.

Vieles spricht also dafür, daß die Gruppe der 25, geführt durch den
Kämpfer Sadik Osmani und weiteren nachgewiesenen UCK-Soldaten als
Hilfskampftruppe in Racak unterwegs war. Beim Rückzug vor den im Dorf
vorrückenden Serben versuchten sie, über den nahe liegenden Hügel zu
entkommen, gerieten aber im Hohlweg in einen serbischen Hinterhalt.
Dabei wurden die meisten - wahrscheinlich kämpfend - getötet. In ein
paar Fällen kann es sich um eine nachträgliche Exekution gehandelt haben.

Nach Lage der Dinge hätte das Jugoslawientribunal im abschließenden
Urteil den Punkt Racak der Anklageschrift als sachlich unbewiesen
zurückweisen müssen. Wer den Prozeß verfolgte, konnte miterleben, daß
zumindest zwei der drei Richter nicht von der Darstellung der
Anklagevertreter überzeugt waren. Andererseits war das Tribunal –
gerade im Fall Racak – einem enormen Erwartungsdruck der Politik und
der Medien ausgesetzt. Milosevic wegen Racak nicht schuldig zu
sprechen, war schlicht unvorstellbar.

In solchen Situationen sind schon andere ehrenwerte Richter, von denen
man es laut Theorie der Gewaltenteilung nicht erwarten durfte, vor der
„politischen Korrektheit der Zeit" eingeknickt.